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04. Dezember 2021, von Michael Schöfer
Geschichtsklitterung ist kontraproduktiv


Ich bin wahrlich kein Putin-Freund, denn der russische Präsident ist ein Autokrat, der der Demokratie feindlich gegenübersteht und nicht einmal vor militärischer Gewalt zurückschreckt. Von Auftragsmorden, die mutmaßlich vom Kreml initiiert wurden, ganz zu schweigen. Die Annexion der Krim im Jahr 2014 war ohne Zweifel völkerrechtswidrig und verstieß gegen das Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen. Doch das sollte uns nicht hindern, ehrlich zu sein. Und zu einer aufrichtigen Bestandsaufnahme gehört die Aussage: Die NATO-Osterweiterung hat das Versprechen des Westens gebrochen, das wir seinerzeit der in Agonie liegenden Sowjetunion gegeben haben. Leider wird im Westen seit etlichen Jahren versucht, diesen Makel durch Geschichtsklitterung zu bereinigen. Daran beteiligt sich teilweise auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk (ÖRR).

So fragt etwa der aktuelle "Faktenfinder" der Tagesschau: "Hat die NATO Versprechen gebrochen?" Silvia Stöber kommt zu dem erstaunlichen Ergebnis: Nein, hat sie nicht. Stöber schreibt: "Wesentlich für die Behauptung einer Zusage an die Sowjetunion sind Gespräche im Februar 1990 zwischen dem damaligen US-Außenminister James Baker und Staatschef Michail Gorbatschow. Einem Memorandum zufolge sagte Baker damals: Die Amerikaner hätten verstanden, dass für die Sowjetunion und andere europäische Länder Garantien wichtig seien für den Fall, dass die USA ihre Präsenz in Deutschland im Rahmen der NATO beibehalten würden, 'sich die gegenwärtige Militärhoheit der NATO nicht ein Zoll in östlicher Richtung ausdehnen wird'. Gemeint war jedoch das Gebiet der DDR - an eine NATO-Mitgliedschaft von Staaten des 1990 noch bestehenden Warschauer Paktes war damals nicht zu denken." [1]

Als die Wiedervereinigung Deutschlands ausgehandelt wurde, gab es zwar keine schriftlich fixierten, aber nichtsdestotrotz unzweideutige mündliche Zusagen westlicher Politiker. Der damalige deutsche Außenministers Hans-Dietrich Genscher bekundete am 02.02.1990 in Washington öffentlich: "Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR (...), sondern das gilt ganz generell." James Baker stand währenddessen direkt daneben. Widerspruch seinerseits? Fehlanzeige! Genschers Zusage war unstreitig eine Grundvoraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung. Der Sowjetunion wurde das mehrfach versichert. Darüber hat am 09.03.2014 auch der ARD-Weltspiegel in seinem Beitrag "Umgang der USA mit Russland" berichtet, die Aussage Genschers kann man sich ab Min. 2:33 selbst ansehen. [Youtube] Sie ist klar und deutlich und kann im Nachhinein nicht uminterpretiert werden.

Kluge Sicherheitspolitik versucht stets, sich auch in die Perspektive des potenziellen Gegners hineinzuversetzen. Die Europäische Union macht zum Beispiel den Westbalkanstaaten gerade Hoffnungen, in die EU aufgenommen zu werden. Argumentiert wird u.a. damit: Wenn wir sie nicht aufnehmen, entsteht ein politisches Vakuum, das Russland und China ausnutzen. Es geht letztlich um die Südflanke der NATO. Wenn wir uns allerdings die Osterweiterung der NATO auf der Landkarte ansehen, muss jeder einigermaßen objektive Betrachter zu dem Ergebnis kommen, dass sich auch Russland subjektiv bedroht oder sogar eingekreist fühlen könnte, immerhin ist die NATO unübersehbar viel, viel näher an Russland herangerückt. Zwischen Genschers Zusage (der innerdeutschen Grenze als Haltelinie der NATO) und der Ostgrenze des heutigen NATO-Gebiets (Grenze von Lettland zu Russland) liegen beachtliche 1.200 km. Und von dort sind es bis zur russischen Hauptstadt nur noch 580 km (im Raketenzeitalter ist Moskau nur noch einen Katzensprung entfernt, die Vorwarnzeit mithin extrem kurz).

Die NATO-Osterweiterung:
dunkelblau = NATO bis zum Ende der Sowjetunion im Jahr 1991
hellblau = die danach der NATO beigetretenen Länder
rot = Russland in seinen heutigen Grenzen [2]


Die gleichen subjektiven Bedrohungsgefühle, die wir selbst in Bezug auf die Westbalkan-Staaten haben (ob sie objektiv einer Grundlage entbehren oder nicht, ist irrelevant), müssen wir doch auch den Russen zugestehen. Doch genau das wird mutwillig übersehen und könnte sich am Ende fatal auswirken. Dieses Bedrohungsgefühl ist übrigens in Russland keineswegs bloß auf den engen Führungskreis um Putin begrenzt, sondern wird anscheinend von vielen russischen Bürgern geteilt - unabhängig davon, ob sie für oder gegen die russische Regierung sind. Was nationalistische Propaganda angeht, rennt die russische Regierung nämlich bei ihren Bürgern offene Türen ein.

Dass der Westen bislang noch kein Rezept gegen die aggressive Außenpolitik Russlands gefunden hat, steht auf einem anderen Blatt. Wie die Geschichte lehrt, ist Appeasement im Umgang mit Autokraten eine schlechte Strategie. Natürlich sollte man nicht auf Eskalation setzen, die womöglich in einen größeren Krieg münden könnte. Aber das Zurückschrecken vor konsequenten Gegenmaßnahmen empfinden Autokraten nur als Ermutigung. Deren typische Salamitaktik, immer nur kleine Schritte unterhalb der Eskalationsschwelle zu gehen, dabei jedoch das angestrebte Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, setzt sich dadurch weiter fort. Gewiss, Selbstbehauptung ist eine gefährliche Gratwanderung, zumal Russland ja nach wie vor eine Atommacht ist, aber die Beschwichtigungsstrategie der vergangenen Jahre hat offenkundig ihre Wirkung verfehlt.

Dennoch sollten wir bei der unumgänglichen Bestandsaufnahme und der notwendigen Zukunftsplanung auf plumpe Geschichtsklitterung verzichten, wie sie vom "Faktenfinder" vorexerziert wird. Jedenfalls ist es relativ leicht, die dort präsentierten "Fakten" als falsch zu entlarven. Wenn der "Faktenfinder" die tatsächlichen Fakten ignoriert, desavouiert er sich damit nur selbst. Und das beschädigt schlussendlich die Reputation des gesamten öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der bei der Meinungsbildung nach wie vor eine wichtige Rolle spielt. Der ÖRR darf nicht ins Fahrwasser von RT Deutsch geraten, denn er ist kein staatliches Propagandaorgan, sondern vielmehr der Objektivität, der kritischen Distanz und den anderen journalistischen Grundsätzen verpflichtet. Bei Silvia Stöbers Beitrag war das nicht erkennbar.

Es wurden, wohlgemerkt auf beiden Seiten, Fehler gemacht. Das Misstrauen ist hüben wie drüben groß. Und wie wir gesehen haben, nicht einmal zu Unrecht. Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind und dabei auch die russische Perspektive nicht völlig aus dem Blickwinkel verlieren, wächst vielleicht wieder Vertrauen. Geschichtsklitterung ist indes kontraproduktiv. Zu alldem gehört freilich, den aggressiven Handlungen Russlands eindeutige Grenzen zu setzen. Grenzen, deren Überschreitung wir nicht dulden dürfen, falls Putin es doch erneut versuchen sollte.

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[1] tagesschau.de vom 03.12.2021, Hervorhebung durch den Autor
[2]
Wikimedia Commons, EU2004-2007.svg, Urheber: Original map created by User: Mfloryan, modified by User: Glentamara, CC BY-SA 4.0-Lizenz, vom Autor farblich verändert

Nachtrag (18.02.2022):
Michail Gorbatschow hat 2009 in einem Interview mit BILD Folgendes gesagt: "Bundeskanzler Helmut Kohl, US-Außenminister James Baker und andere sicherten mir zu, dass die NATO sich keinen Zentimeter nach Osten bewegen würde. Daran haben sich die Amerikaner nicht gehalten, und den Deutschen war es gleichgültig." [3] Später erinnerte er sich anders, seine erste Aussage wird nun aber von einem Dokument aus deutscher Feder bestätigt. "Archivfund bestätigt Sicht der Russen bei Nato-Osterweiterung", meldet "Die Welt" heute. "Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine Nato-Mitgliedschaft anbieten." Das schrieb der deutsche Diplomat Jürgen Chrobog in einem Bericht über das Treffen der Politischen Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands in Bonn am 6. März 1991. Auch der Vertreter der USA, Raymond Seitz, habe damals bestätigt: "Wir haben gegenüber der Sowjetunion klargemacht - bei Zwei-plus-Vier- wie auch anderen Gesprächen -, dass wir keinen Vorteil aus dem Rückzug sowjetischer Truppen aus Osteuropa ziehen werden." [4] Das westliche Narrativ, es habe keine Zusage gegenüber der Sowjetunion gegeben, ist offenbar tatsächlich falsch.

[3] Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Hannes Adomeit, Arbeitspapier Sicherheitspolitik, Nr. 3/2018, NATO Osterweiterung: Gab es westliche Garantien?
[4] Die Welt-Online vom 18.02.2022