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05. Dezember 2021, von Michael Schöfer
Die Panikmacher: Was reitet eigentlich diese Leute?


Zu Beginn der Corona-Pandemie hielten viele die Gefahr, die von SARS-CoV-2 ausgeht, für vernachlässigbar und verglichen das Virus eher mit der Grippe. Diese Ansicht vertrat zunächst sogar der deutsche Virologen-Papst Christian Drosten: "Das neuartige Coronavirus verbreitet sich in China immer mehr. Auch in anderen Ländern wie in Deutschland ist die Zahl der Infizierten gestiegen. Die Angst vor einer Ansteckung macht sich breit, doch Virologe Christian Drosten hält sie für unbegründet. Denn andere Erreger und Krankheiten seien weitaus ansteckender oder gefährlicher. (…) 'Ich könnte mir gut vorstellen, dass so eine Influenza-Pandemie ein gutes Denkmodell ist für etwas, das uns vielleicht erwarten könnte mit diesem neuen Virus.' (…) Normalbürger müssen sich keine große Sorgen machen, dass sie angesteckt werden und erkranken, sagt Christian Drosten." [1]

Auch wenn sich Drosten damals vorsichtig ausgedrückt hat, heute sind wir alle schlauer und wissen viel mehr über das Virus. Das liegt bei neuen Erregern in der Natur der Sache und zeigt obendrein, wie Wissenschaft funktioniert: Bei ihr gibt es keine in Stein gemeißelten Dogmen, alle Theorien werden ständig überprüft und - falls erforderlich - revidiert. Die ursprüngliche Beurteilung von SARS-CoV-2 musste gezwungenermaßen revidiert werden.

Bei der Grippewelle 2017/2018, als allein in Deutschland 25.100 Menschen an einer Influenza-Infektion starben, lag die Infektions-Sterbe-Rate bei 0,5 Prozent, doch das war die schwerste Grippewelle der vergangenen 30 Jahre, in einer normalen Grippesaison liegt sie bei 0,1 bis 0,2 Prozent. Anders bei SARS-CoV-2: Unter Berücksichtigung der Dunkelziffer wird die Letalitätsrate dem RKI zufolge derzeit auf etwa 0,4 bis 0,9 Prozent taxiert. [2] Die Corona-Pandemie ist also viel gefährlicher als eine normale Grippewelle. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte zweifellos recht, als sie in ihrem letzten Podcast die Bürgerinnen und Bürger erneut warnte: "Nehmen Sie das tückische Virus ernst."

Andererseits gibt es auch keinen Grund zur Hysterie. Frank Ulrich Montgomery, der Vorsitzende des Weltärztebundes, sagte allerdings vor kurzem: "Meine große Sorge ist, dass es zu einer Variante kommen könnte, die so infektiös ist wie Delta und so gefährlich wie Ebola." [3] Natürlich kann man eine solche Entwicklung nicht völlig ausschließen, aber ist dies beim derzeitigen Kenntnisstand eine hilfreiche und verantwortungsvolle Äußerung? Nein, das ist bloß Panikmache. Bei Ebola liegt die Letalitätsrate je nach Virustyp und dem Grad der Versorgung bei 30 bis 90 Prozent. [4] Mit anderen Worten: Wäre SARS-CoV-2 so tödlich wie Ebola, würden die Menschen sterben wie die Fliegen, es käme zu einem Massensterben, das sogar die Pestseuchen des Mittelalters übertreffen könnte. Zur Erinnerung: Der "Schwarze Tod" raffte zwischen 1346 und 1353 in Europa ungefähr ein Drittel der damaligen Bevölkerung dahin. [5] Hat Montgomery irgendwelche Hinweise, dass sich SARS-CoV-2 tatsächlich in diese Richtung entwickelt? Dann soll er sie auf den Tisch legen. Substanzlose Befürchtungen verbreiten, sollte er als Vorsitzender des Weltärztebundes jedoch unterlassen.

Manche Politiker blasen ins gleiche Horn: "Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann sieht in der Corona-Pandemie eine 'Plage biblischen Ausmaßes'. Kretschmann sagte am Samstag beim Grünen-Landesparteitag in Heidenheim: 'Das ist für uns alle kaum mehr zu ertragen.'" [6] Er spielte damit wohl auf die zehn biblischen Plagen an, die der Legende nach Ägypten befielen, weil der Pharao das Volk Israel nicht in die Freiheit ziehen lassen wollte (Altes Testament, 2. Buch Mose, Exodus).

1. Verwandlung von Wasser in Blut: Die Gewässer Ägyptens (Flüsse, Nilarme, Sümpfe und alle Wasserstellen) verwandeln sich auf Befehl Gottes in Blut. "Die Fische im Nil starben und der Nil stank, sodass die Ägypter kein Nilwasser mehr trinken konnten. Das Blut gab es in ganz Ägypten." (Ex 7,21)

2. Eine Froschplage, die ganz Ägypten bedeckte. (Ex 8,2)

3. Stechmückenplage: "In ganz Ägypten wurden aus dem Staub auf der Erde Stechmücken. (…) Die Stechmücken saßen auf Mensch und Vieh." (Ex 8,13 und Ex 8,14)

4. Ungezieferplage: "Die Häuser in Ägypten werden voll Ungeziefer sein; es wird sogar den Boden, auf dem sie stehen, bedecken. (…) Ungeziefer kam in Massen über das Haus des Pharao, über das Haus seiner Diener und über ganz Ägypten." (Ex 8,17 und Ex 8,20)

5. Viehkrankheiten: "Alles Vieh der Ägypter ging ein." (Ex 9,6)

6. Geschwüre: "Da bildeten sich an Mensch und Vieh Geschwüre mit aufplatzenden Blasen. (…) alle Ägypter [waren] von Geschwüren befallen." (Ex 9,10 und Ex 9,11)

7. Unwetter: "(…) der Herr ließ es donnern und hageln. Blitze fuhren auf die Erde herab und der Herr ließ Hagel über Ägypten niedergehen. (…) Der Hagel erschlug in ganz Ägypten alles, was auf dem Feld war. Menschen, Vieh und alle Feldpflanzen erschlug der Hagel und alle Feldbäume zerbrach er." (Ex 9,23 und Ex 9,25)

8. Heuschreckenplage: "Sie bedeckten die Oberfläche des ganzen Landes und das Land war schwarz von ihnen. Sie fraßen allen Pflanzenwuchs des Landes und alle Baumfrüchte auf, die der Hagel verschont hatte, und an den Bäumen und Feldpflanzen in ganz Ägypten blieb nichts Grünes." (Ex 10,15)

9. Finsternis in ganz Ägypten: "Man konnte einander nicht sehen und sich nicht von der Stelle rühren, drei Tage lang." (Ex 10,23)

10. Tod aller Erstgeborenen: "Es war Mitternacht, als der Herr alle Erstgeborenen in Ägypten erschlug, vom Erstgeborenen des Pharao, der auf dem Thron saß, bis zum Erstgeborenen des Gefangenen im Kerker, und jede Erstgeburt beim Vieh. (…) es gab kein Haus, in dem nicht ein Toter war." (Ex 12,29 und Ex 12,30) [7]

Sehen wir einmal von logischen Ungereimtheiten ab (das Vieh, das in Ex 9,6 ausnahmslos eingegangen ist, wurde danach in Ex,10 von Geschwüren befallen, in Ex 9,23 wiederum vom Hagel erschlagen und war schließlich in Ex,12 vom Tod der Erstgeborenen betroffen): Ist Kretschmanns Vergleich der Corona-Pandemie mit dem Ausmaß der biblischen Plagen gerechtfertigt? Die Antwort liegt auf der Hand: Nein, nicht einmal annähernd.

Hätte er hingegen die sieben Plagen der Endzeit (die sieben Engel mit den Schalen des Zorns) in der Offenbarung des Johannes (Apokalypse) gemeint, wäre seine Anspielung ja noch düsterer, denn dann befänden wir uns bereits in Harmagedon, dem Ort der endzeitlichen Entscheidungsschlacht im "Krieg des großen Tages Gottes, des Allmächtigen". Oje...
  • "Der erste ging und goss seine Schale über das Land. Da bildete sich ein böses und schlimmes Geschwür an den Menschen, die das Kennzeichen des Tieres trugen und sein Standbild anbeteten." (Off 16,2)
  • "Der zweite Engel goss seine Schale über das Meer. Da wurde es zu Blut, das aussah wie das Blut eines Toten; und alle Lebewesen im Meer starben." (Off 16,3)
  • "Der dritte goss seine Schale über die Flüsse und Quellen. Da wurde alles zu Blut." (Off 16,4)
  • "Der vierte Engel goss seine Schale über die Sonne. Da wurde ihr Macht gegeben, mit ihrem Feuer die Menschen zu verbrennen." (Off 16,8)
  • "Der fünfte Engel goss seine Schale über den Thron des Tieres. Da kam Finsternis über das Reich des Tieres und die Menschen zerbissen sich vor Angst und Schmerz die Zunge." (Off 16,10)
  • "Der sechste Engel goss seine Schale über den großen Strom, den Eufrat. Da trocknete sein Wasser aus, sodass den Königen des Ostens der Weg offen stand." (Off 16,12)
  • "Und der siebte Engel goss seine Schale über die Luft. Da kam eine laute Stimme aus dem Tempel, die vom Thron her rief: Es ist geschehen. Und es folgten Blitze, Stimmen und Donner; es entstand ein gewaltiges Erdbeben, wie noch keines gewesen war, seitdem es Menschen auf der Erde gibt. So gewaltig war dieses Beben. Die große Stadt brach in drei Teile auseinander und die Städte der Völker stürzten ein. Gott hatte sich an Babylon, die Große, erinnert und reichte ihr den Becher mit dem Wein seines rächenden Zornes. Alle Inseln verschwanden und es gab keine Berge mehr. Und gewaltige Hagelbrocken, zentnerschwer, stürzten vom Himmel auf die Menschen herab. Dennoch verfluchten die Menschen Gott wegen dieser Hagelplage; denn die Plage war über die Maßen groß." (Off 16,17 bis 16,21) [8]
Bitte nicht falsch verstehen, man darf den Ernst der Lage (insbesondere den auf den Intensivstationen) keinesfalls bagatellisieren, aber man soll auch nicht Hysterie verbreiten. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg muss sich jedenfalls angesichts seiner dramatisierenden Wortwahl fragen lassen, ob er nicht mittlerweile den Bezug zur Realität verloren hat.

Ich frage mich, was diese Leute eigentlich reitet. Bis dato sind hierzulande seit Beginn der Pandemie vor zwei Jahren 103.043 Menschen an Corona verstorben (weltweit 5.251.181). [9] Das ist schlimm und für die Betroffenen sowie deren Angehörigen furchtbar. Dennoch ist diese Pandemie weder mit Ebola noch mit den biblischen Plagen vergleichbar. Wäre sie das, würde in der Bevölkerung sicherlich Panik ausbrechen und die Lage dadurch wahrscheinlich vollkommen unbeherrschbar. Die Menschen sollten besorgt sein, aber nicht panisch reagieren.

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[1] Deutschlandfunk Nova vom 04.02.2020
[2] RKI, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, 13. Fall-Verstorbenen-Anteil, Infektions-Sterbe-Rate, Letalität, Stand: 26.11.2021
[3] Die Welt vom 27.11.2021
[4] RKI, Antworten auf häufig gestellte Fragen zu Ebolafieber
[5] Wikipedia, Schwarzer Tod
[6] Süddeutsche vom 04.12.2021
[7] Universität Innsbruck, Die Bibel in der Einheitsübersetzung, Das Buch Exodus, Kapitel 7 bis 12
[8] Universität Innsbruck, Die Offenbarung des Johannes, Kapitel 16
[9] Johns Hopkins University, Coronavirus Resource Center, Covid-19 Dashboard, Stand 05.12.2021, 12:22 Uhr