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07. Januar 2022, von Michael Schöfer
Russland damals und heute


Der Krimkrieg spielt im historischen Gedächtnis der Deutschen keine Rolle - erstens, weil er im 19. Jahrhundert stattfand (von 1853 bis 1856), zweitens, weil sich Preußen nicht am Krieg beteiligte, und drittens, weil es Deutschland als Nation damals noch gar nicht gab (das Deutsche Reich wurde bekanntlich erst 1871 gegründet). Es soll hier nicht um die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 gehen, dennoch sind die Parallelen frappierend. Manches scheint sich offenbar nie zu ändern.

Vordergründig ging es im Vorfeld des Krimkrieges um religiöse Konflikte in Jerusalem, das damals zum Osmanischen Reich gehörte. Genauer: Die christlichen Konfessionen stritten um die Nutzung der Grabeskirche, und der russische Zar Nikolaus I. (1796-1855) beanspruchte die Schirmherrschaft über die Christen in Palästina. Es ging ihm angeblich um den Schutz der orthodoxen Christen im Osmanischen Reich. Viel wichtiger dürften jedoch die Großmachtinteressen des Zaren gewesen sein, der große Teile des zerfallenden Osmanischen Reiches (der "kranke Mann am Bosporus") in seinen Besitz bringen wollte. Auf dem Balkan lebten Slawen unter osmanischer Oberhoheit, weshalb der Konflikt hier seinen Ausgang nahm. Russland intervenierte militärisch in den Donaufürstentümern (Moldau, Walachai), wurde aber unerwarteterweise von den Osmanen zurückgeschlagen. Frankreich und England unterstützten Konstantinopel, mussten freilich auf dem Balkan nicht mehr aktiv eingreifen. Da sie, vor allem die Briten, insgeheim weitergehende Interessen verfolgten (eine Neuordnung Europas zulasten Russlands), landeten sie schließlich auf der Krim. Das ist zumindest in groben Zügen Mitte des 19. Jahrhunderts die Gemengelage. Wer Näheres wissen möchte, dem empfehle ich das wirklich ausgezeichnete Buch von Orlando Figes ("Krimkrieg", Berlin-Verlag 2014), das leider nur noch im Antiquariat erhältlich ist.

Am Ende setzten sich Franzosen und Briten mit der Besetzung von Sewastopol durch, Russland verlor zwar den Krieg, aber nicht die Hoheit über die Halbinsel im Schwarzen Meer. Es musste allerdings auf seine Schwarzmeerflotte verzichten, das Schwarze Meer wurde entmilitarisiert und Russland auf dem Balkan zurückgedrängt. Im Krimkrieg traten die Defizite des Riesenreichs offen zutage: Das autoritäre, noch auf der Leibeigenschaft beruhende Herrschaftssystem; die technologische Rückständigkeit, etwa im Hinblick auf die Industrialisierung oder das Verkehrssystem (unzureichender Ausbau des Eisenbahnnetzes); die ausbleibende Professionalisierung der russischen Armee.

Die Parallelen zur Gegenwart sind unverkennbar: Das Russland anno 2022 ist ebenfalls autoritär, behindert die Entwicklung einer offenen Gesellschaft und dient anscheinend vor allem der Bereicherung einer kleinen Clique an der Staatsspitze. Außer seinen Rohstoffen hat das Land wenig anzubieten (2019 waren 52,0 % seiner Exporte Mineral. Brennstoffe, nur 2,1 % Maschinen/mechanische Geräte). Moderne Konsumgüterindustrie? Fehlanzeige! Sogar die Raumfahrt hat mittlerweile Probleme bekommen. Einzig die Rüstungsindustrie reicht an westliches Niveau heran.

Heute wie damals zeigt man sich vom Westen enttäuscht, prophezeit dessen baldigen Niedergang, fühlt sich nicht ausreichend gewürdigt, neigt zu übersteigertem Nationalismus und lehnt jede gesellschaftliche Modernisierung hartnäckig ab. Russland ist nach wie vor wenig anziehend für andere Länder (außer für Autokraten) und übt vor allem über sein Militär Einfluss aus (z.Zt. in Syrien, Belarus, der Ukraine und Kasachstan). Wladimir Putin hat - wie die Zaren - versäumt, sein potenziell reiches Land zu entwickeln, will aber dennoch in der Weltpolitik eine entscheidende Rolle spielen. Doch das russische Bruttoinlandsprodukt betrug im Pandemie-Vorkrisenjahr 2019 bloß 7,9 % des amerikanischen und lediglich 10,9 % des europäischen (EU 28). [1] Pro Kopf gerechnet stand es auf Platz 65 - hinter der Karibikinsel St. Lucia und knapp vor Grenada. [2]

Mit anderen Worten: Russland bläst heute wie damals mächtig die Backen auf, kann indes den sich abzeichnenden Konflikt auf Dauer nicht gewinnen. Das Land müsste im eigenen Interesse mehr auf Kooperation anstatt auf Konfrontation setzen, aber diese Einsicht hatte Nikolaus I. genauso wenig wie sie Putin zu haben scheint.

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[1] Wikipedia, Wirtschaft der Europäischen Union, Entwicklung im Vergleich zu Staaten außerhalb der EU, abgerufen 07.01.2022 22:14
[2] Wikipedia, Liste der Länder nach Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, abgerufen 07.01.2022 22:10