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18. Januar 2022, von Michael Schöfer
Der eigentlich Kern des Konflikts


Helmut Kohl hat frühzeitig auf "das Sicherheitsbedürfnis aller Beteiligten - und insbesondere der Sowjetunion -" hingewiesen, "dessen umfassende Berücksichtigung im gemeinsamen Interesse liege". [1] Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher sah das genauso: "Wir [gemeint sind Genscher und US-Außenminister James Baker] waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR (...), sondern das gilt ganz generell." [2] Die NATO hat im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung den Eindruck erweckt, sich nicht nach Osten ausdehnen zu wollen. Die Geschichte nahm bekanntlich einen anderen Verlauf.

Nicht ganz zu Unrecht gilt der Bruch dieses - niemals schriftlich fixierten - Versprechens als Ursache der heutigen Spannungen, die durchaus in einen Krieg münden könnten. Doch selbst wenn der Westen das Sicherheitsbedürfnis Russlands missachtet haben sollte, ist dies trotzdem nicht der eigentliche Kern des Konflikts. Der Hauptgrund ist vielmehr die russische Autokratie. Die NATO hat noch nie ein demokratisches Land militärisch angegriffen, dafür gibt es auch keinen ersichtlichen Grund. Unter Demokratien werden Meinungsverschiedenheiten juristisch geregelt: mit Verträgen und Entscheidungen von Schiedsgerichten oder internationalen Gerichtshöfen, gelegentlich auch unter Zuhilfenahme von Wirtschaftssanktionen. Aber Krieg? Nein! Die USA fühlen sich auch nicht von den Atomwaffen Frankreichs oder Großbritanniens bedroht, von den russischen oder chinesischen dagegen schon. Wäre Russland eine Demokratie, müsste sich Russland - objektiv betrachtet - gar nicht vor der NATO fürchten, selbst wenn diese die Ukraine aufnähme.

Man muss feinsinnig unterscheiden: Nicht Russland fühlt sich bedroht, es ist in Wahrheit bloß die russische Führung um Wladimir Putin, die um ihre Macht und ihre Privilegien fürchtet. Das Gleiche in Belarus: Fühlen sich die Weißrussen von der NATO bedroht? Natürlich nicht, bedroht fühlt sich nur das Regime von Alexander Lukaschenko. Man geht daher den Autokraten auf den Leim, wenn man deren subjektives Sicherheitsgefühl mit dem Sicherheitsgefühl des Landes (der Einwohner) gleichsetzt.

Es heißt, Putin würde auch gewählt, wenn es in Russland freie Wahlen gäbe, aber er will es vorsichtshalber dann doch nicht darauf ankommen lassen, weshalb Wahlen schon im Vorfeld manipuliert werden. Das spricht nicht gerade für ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein - auch wenn Putin sich in der Öffentlichkeit gerne als harter Brocken inszeniert. Autokratien sind entgegen dem Eindruck, den sie erwecken wollen, total verunsichert und im Grunde so fragil wie ein Kartenhaus, das jeden Augenblick zusammenbrechen kann. Wäre es anders, müssten sie nicht zu repressiven Maßnahmen greifen (Zensur, willkürliche Verhaftungen, Polizeigewalt, Folter, Schauprozesse, Mordanschläge, Verhinderung von Kandidaturen, Wahlfälschungen etc.). Je nach Grad der Paranoia lauern die Feinde überall, oft sogar über kurz oder lang in den eigenen Reihen, was dann zu "Säuberungen" führt (vor kurzem hat das Kasachstans Präsident Tokajew vorexerziert).

Dennoch müssen wir gezwungenermaßen mit den Autokraten leben, weil sie nun mal - ob uns das gefällt oder nicht - faktisch die Macht ausüben. Insofern ist es gut, wenn man den aktuellen Konflikt mit der russischen Regierung möglichst auf diplomatischem Weg zu lösen versucht. Falls das misslingt muss allerdings der Preis, den Putin zu zahlen hat, höher sein als sein angestrebter Gewinn. Von daher ist es völlig unverständlich, warum manche denkbare Sanktionsmöglichkeiten, etwa den Ausschluss Russlands aus Swift (Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication), von vornherein vom Tisch nehmen wollen. Der designierte CDU-Vorsitzende Friedrich Merz: "Ich würde massive ökonomische Rückschläge auch für unsere Volkswirtschaften sehen, wenn so etwas geschieht. Es würde Russland treffen. Aber wir würden uns selbst erheblich schaden." [3] Putin wird diese "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass"-Haltung zweifellos als Schwäche interpretieren. Selbstverständlich werden auch wir unter Sanktionen zu leiden haben, aber die Geschichte lehrt, dass ängstliches Zurückzucken und Appeasement Autokraten nur dazu ermuntert, immer dreister zu werden und ständig mehr zu fordern. Am Ende wäre dann der Preis für uns unbezahlbar hoch, Autokraten tritt man deshalb besser frühzeitig entgegen.

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[1] Bundesarchiv, Kabinettsprotokoll der Bundesregierung vom 10. Januar 1990
[2] Youtube, ARD-Weltspiegel vom 09.03.2014, ab Min. 2:33
[3] Handelsblatt vom 16.01.2022