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19. Januar 2022, von Michael Schöfer
Wie das manchmal mit Zusagen so läuft


Es wird ja im Westen immer wieder darauf hingewiesen, dass man der Sowjetunion nie versprochen habe, die NATO nicht ostwärts zu erweitern. Russland verbreitet eine andere Version. Einig ist man sich lediglich darin, dass es keine schriftliche Zusage gibt, die mündlichen Äußerungen bei den Verhandlungen werden allerdings bis heute unterschiedlich interpretiert. Horst Teltschik, ehedem außenpolitischer Berater des Bundeskanzlers, sagt: Es sei bei den Gesprächen zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow "immer um den Übergangsstatus der DDR und Berlins gegangen, niemals um eine Nato-Osterweiterung über Deutschland hinaus. Diese sei damals denkunmöglich gewesen." [1]

Warum dann der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei seinem Besuch in Washington im Februar 1990 das angeblich "Denkunmögliche" sogar in aller Deutlichkeit aussprach, bleibt Teltschiks Geheimnis. [2] Logisch ist das westliche Narrativ jedenfalls nicht, vielmehr biegt man sich hier offenbar im Nachhinein manches nur zurecht. Dass es später schriftlich fixierte Verträge gab, in denen zugesichert wurde, jeder souveräne Staat könne sich sein Bündnis selbst aussuchen, ändert am Eindruck, der im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung erweckt wurde, keinen Deut. Es geht darum, was wahr und was unwahr ist. Und um das zu eruieren man muss kein "Putin-Versteher" sein. Aber vermutlich bleibt dieser Dissens bis in alle Ewigkeit ungelöst.

Doch wie das in Verhandlungen manchmal so läuft, hat soeben der frühere Außenminister Sigmar Gabriel geschildert. Er wurde im Deutschlandfunk zum Ukraine-Konflikt im Allgemeinen und zur Rolle der Nord Stream 2-Pipeline im Besonderen interviewt. Wirklich hochinteressant.

Sigmar Gabriel: "Die Wahrheit ist, dass wir mit Russland immer darüber geredet haben, Nord Stream 2 ist nur unter zwei Bedingungen möglich, dass die Ukraine nicht als Gegner ständig angesehen wird, und zweitens, dass das Gas weiter durch die transukrainische Pipeline ebenso fließt. Wir haben sogar über Mengen geredet. Es gab immer eine Verbindung zwischen der Sicherheit der Ukraine, der Sicherheit der Energieversorgung der Ukraine und Nord Stream 2."

Frage von Dirk-Oliver Heckmann (DLF): "Ist das eine verbindliche Absprache gewesen? Ist das schriftlich?"

Sigmar Gabriel: "Aber sicher! – Das weiß ich nicht, ob Frau Merkel das schriftlich hat machen lassen. Ich weiß jedenfalls, dass es in allen deutschen Zeitungen stand, dass es mir gegenüber der russische Präsident mehrfach auch gesagt hat." [3]

Bemerkenswert: Der seinerzeit amtierende Außenminister weiß also nicht, ob diese Zusage schriftlich gemacht wurde, aber er geht von ihrer Existenz aus, weil es - man höre und staune - "in allen deutschen Zeitungen stand". Dass es ihm der russische Präsident persönlich gesagt hat, kann man, Horst Teltschik lässt grüßen, glauben oder nicht. Die Parallele zu den mündlichen Zusagen im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung ist frappierend.

Nehmen wir einmal an, der russische Außenminister Sergei Lawrow würde Folgendes behaupten: Es sei bei den Gesprächen zwischen Russland und Deutschland "immer nur um die Pipeline Nord Stream 2 gegangen, aber niemals um eine Verknüpfung mit der Pipeline in der Ukraine. Man habe auch nie schriftlich zugesagt, weiterhin Gas durch die transukrainische Pipeline zu leiten." Angenommen, Angela Merkel hat sich die Zusage tatsächlich nicht schriftlich geben lassen, sondern den mündlichen Bekundungen der russischen Seite vertraut - dann stünde der Westen heute ziemlich belämmert da, weil er die Verknüpfung der Pipelines nicht belegen könnte.

Es ist naiv, sich Zusagen nur mündlich und nicht schriftlich geben zu lassen. Das gilt für den Kauf einer Waschmaschine genauso wie für die Auflösung von Staaten oder den Bau von Gas-Pipelines. Es müsste schon ein hohes Maß an Vertrauen herrschen, um auf die Schriftform zu verzichten. Das ist in der internationalen Politik extrem selten, denn auf diesem Gebiet misstraut jeder jedem. Und leider, wie man am jetzigen Verhalten Russlands sieht, oft zu Recht. Sollte es tatsächlich in beiden Fällen keine schriftlich fixierten Zusagen geben, haben Gorbatschow und Merkel jeweils unprofessionell verhandelt.

Das ändert natürlich nichts am Grundprinzip der Souveränität aller Staaten, die keinesfalls zur Disposition stehen darf. Am wenigsten unter dem Eindruck einer militärischen Drohkulisse. Die russischen Kriegsdrohungen sind daher absolut inakzeptabel.

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[1] Der Standard vom 19.01.2022, Hervorhebung durch den Autor
[2] "Wir [gemeint sind Genscher und US-Außenminister James Baker] waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR (...), sondern das gilt ganz generell." Youtube, ARD-Weltspiegel vom 09.03.2014, ab Min. 2:33
[3] Deutschlandfunk vom 19.01.2022, Sigmar Gabriel im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann