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06. Februar 2022, von Michael Schöfer
Wladimir Löwenherz

Once upon a time… Es gab einmal eine Zeit, in der Könige echte Helden sein mussten. Leonidas I. zum Beispiel, der 480 v. Chr. in der legendären Schlacht bei den Thermopylen gegen die Perser den Rückzug der Griechen deckte und an der Seite seiner Soldaten fiel. Oder Richard Löwenherz, der auf einem Kreuzzug nach Jerusalem dabei war und bekanntlich auf der Rückreise in Gefangenschaft geriet. Auch wenn die Überlieferung vielleicht einiges verklärt haben mag, ist zumindest die persönliche Kriegsteilnahme verbürgt. Es gab also tatsächlich einmal eine Zeit, in der Könige nicht wohlbehütet daheim in der warmen Stube sitzen konnten, wenn sie einen Krieg anzettelten. Nein, sie mussten mutig sein und fanden dabei gelegentlich selbst den Tod.

Heute ist das ganz anders. Nehmen wir Wladimir Putin, der momentan einen Krieg gegen die Ukraine vorzubereiten scheint. Die Russen kennen die Propagandabilder zur Genüge: Putin in der Wildnis beim Angeln, Putin mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd. Das soll suggerieren: der Kremlchef ist ein harter Kerl. Im Kontrast dazu steht seine panische Angst vor einer Ansteckung mit SARS-CoV-2. Journalisten berichteten von fast schon paranoiden Sicherheitsvorkehrungen bei seiner jährlichen Pressekonferenz. "Wer zur Teilnahme zugelassen ist, muss drei negative PCR-Tests vorweisen. Um dann in das Veranstaltungszentrum zu gelangen, mussten mehrere Desinfektionsschleusen passiert werden." [1] Und das zu einem Zeitpunkt, an dem der russische Staatschef eigenen Angaben zufolge bereits geboostert worden war.

Wladimir Putin, da unterscheidet er sich nicht von allen anderen, hat Angst um sein Leben. Das ist ebenso menschlich wie verständlich. Aber was wir momentan sehen, ist, dass er im Kreml oder im Palast am Kap Idokopas seine Soldaten wie Schachfiguren herumschiebt, um sie möglicherweise in der Ukraine dem Tod auszusetzen. Selbstverständlich wird Putin, anders als Leonidas oder Richard Löwenherz, nicht persönlich an den Schlachten teilnehmen, es könnte ihm dabei ja etwas zustoßen. Nein, der harte Kerl mit dem nackten Oberkörper trägt das Gewehr nur für Inszenierungen in der Hand, kämpfen müssen seine Soldaten alleine und in der Gewissheit, dass der Präsident ihren Kampf aufmerksam im gut geheizten Arbeitszimmer verfolgen wird. Das Leid der Soldaten wird er allenfalls als Zahl auf dem Bildschirm seines Computers wahrnehmen. Aus sicherer Entfernung, versteht sich.

Das Herumschieben von Schachfiguren in Regierungszentralen ist in modernen Kriegen zur Normalität geworden. Doch in Demokratien gibt es gegen Willkür institutionelle Schranken: Es gibt Parlamente, es gibt unabhängige Gerichte, es gibt faire Wahlen und es gibt eine freie Presse. Autokraten wie Putin haben sich solch lästiger Kontrolle längst entledigt, weshalb er die russischen Soldaten vermutlich ganz nach eigenem Gusto auf dem Schachbrett der Geopolitik einsetzen kann. Oder allenfalls nach Beratungen im allerengsten Kreis (leider ist nicht allzu viel über die Machtmechanismen im heutigen Russland bekannt). Demokratien führen keine Kriege gegen Demokratien, aber Autokraten können gegen alles und jeden Krieg führen, denn sie brauchen sich für Verluste vor niemandem zu rechtfertigen. Nur wenn ein von ihnen angezettelter Krieg verloren geht, wie etwa der Falklandkrieg der argentinischen Militärjunta gegen Großbritannien im Jahr 1982, kann das zum Kollaps ihres Regimes führen.

Oh wie mag ich diese erbärmlichen "Helden", die jedes persönliche Risiko vermeiden und es großzügig an die Frontsoldaten delegieren. Diese Herren, denen man sich ohne PCR-Tests und Desinfektionsschleusen nicht einmal nähern darf, die aber die Befehlsgewalt über Panzer, Kampfflugzeuge und Atomraketen besitzen. Und warum machen die Soldaten das mit? Warum opfern sie ihr Leben für die Feiglinge an der Staatsspitze? Das ist m.E. nur durch die jahrelange Indoktrinierung, aber keinesfalls mit der Ratio zu erklären.

Den Schachfiguren, den Bauernopfern ist ein Lied gewidmet, das dem sozialdemokratischen Dichter Max Kegel (1850-1902) zugeschrieben wird, aber auch vom sozialdemokratischen Journalisten Carl Hirsch (1841-1900) stammen könnte. Es wurde erstmals 1870 im Zwickauer Tageblatt veröffentlicht (Sachsen war ehedem eine sozialdemokratische Hochburg). In Westdeutschland wurde es noch einmal in den siebziger Jahren durch das Folk-Duo "Zupfgeigenhansel" populär, in Ostdeutschland durch die Folk-Gruppe "Liedehrlich". Es hat bis dato nichts von seiner Aussagekraft verloren:

Ich bin Soldat

Ich bin Soldat, doch bin ich es nicht gerne,
Als ich es ward, hat man mich nicht gefragt.
Man riss mich fort, hinein in die Kaserne,
Gefangen ward ich, wie ein Wild gejagt.
Ja, von der Heimat, von des Liebchens Herzen
Musst’ ich hinweg, und von der Freunde Kreis.
Denk ich daran, fühl’ ich der Wehmut Schmerzen,
Fühl’ in der Brust des Zornes Glut so heiß.

Ich bin Soldat, doch nur mit Widerstreben,
Ich lieb ihn nicht, den blauen Königsrock.
Ich lieb es nicht, das blut’ge Waffenleben,
Mich zu verteid’gen, wär’ genug ein Stock.
O sagt mir an, wozu braucht ihr Soldaten?
Ein jedes Volk liebt Ruh’ und Frieden nur.
Allein aus Herrschsucht und dem Volk zum Schaden
Lasst ihr zertreten, ach, die gold’ne Flur!

Ich bin Soldat, muss Tag und Nacht marschieren,
Statt an der Arbeit muss ich Posten steh’n,
Statt in der Freiheit muss ich salutieren
Und muss den Hochmut frecher Burschen seh’n.
Und geht’s ins Feld, so muss ich Brüder morden,
Von denen keiner mir zuleid was tat,
Dafür als Krüppel trag’ ich Band und Orden,
Und hungernd ruf ich dann: Ich war Soldat!

Ihr Brüder all’, ob Deutsche, ob Franzosen,
Ob Ungarn, Dänen, ob vom Niederland,
Ob grün, ob rot, ob blau, ob weiß die Hosen,
Gebt euch statt Blei zum Gruß die Bruderhand!
Auf, lasst zur Heimat uns zurückmarschieren,
Von den Tyrannen unser Volk befrei’n,
Denn nur Tyrannen müssen Kriege führen,
Soldat der Freiheit will ich gerne sein. [2]

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[1] Focus-Online vom 24.12.2021
[2] gesungen von Zupfgeigenhansel auf Youtube