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27. Februar 2022, von Michael Schöfer
Zeitenwende


Wir erleben eine Zeitenwende. Das, was die Geschichte schon oft unter Beweis gestellt hat, scheint sich nun abermals zu bestätigen: Autokraten manövrieren ihr Land bestenfalls in eine Sackgasse, schlimmstenfalls stürzen sie es ins Unglück. Und nicht nur ihr eigenes, häufig reißen sie andere Länder mit in den Abgrund. Das sieht man gerade bei Wladimir Putin. Er hat sich verkalkuliert und wird für seinen Angriffskrieg international geächtet. Die ökonomischen Konsequenzen für Russland sind verheerend. Putin ist dabei, sein Land zu ruinieren und hat genau das Gegenteil seiner Ziele erreicht.

Im Kontrast dazu ist die Demokratie, was die Ukraine aktuell auf bewundernswerte Weise vorexerziert, stärker als gedacht. Ob Russland angesichts seiner militärischen Überlegenheit eine Niederlage erleiden wird, muss einstweilen offen bleiben. Aber die russische Invasion läuft anscheinend nicht wie ursprünglich geplant, die Ukrainer kämpfen wirklich heldenhaft. Allen voran der in der Vergangenheit unterschätzte ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der in der Krise förmlich über sich hinausgewachsen ist und dem ganzen Land mit seinem Beispiel Mut macht: "Ich bin hier. Wir werden die Waffen nicht niederlegen. Wir werden unseren Staat verteidigen." Das erinnert ein bisschen an Winston Churchill ("We shall never surrender"). Das Angebot der Amerikaner zur Flucht schlägt er aus: "Der Kampf ist hier. Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit." Es ist die immer wiederkehrende Geschichte vom ungleichen Kampf zwischen David und Goliath.

Putin ist in der Welt isoliert, gilt inzwischen bei vielen, sogar bei früheren Anhängern, als unberechenbarer Verbrecher. Man muss sich in der Tat fragen, ob er geistig noch zu rationalem Handeln fähig ist. Wie er den Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, Sergei Naryschkin, bei einer im Fernsehen übertragenen Sitzung des Sicherheitsrats öffentlich demütigte, spricht Bände. Offenbar herrscht selbst im innersten Führungskreis eine krude Angstkultur - und ein stammelnder, aus dem Konzept gebrachter Geheimdienstchef macht das für alle Welt sichtbar. Typisch für autoritäre Systeme, in denen ein Alleinherrscher das Sagen hat und das immer wieder unter Beweis stellen muss. Das ist bedauerlicherweise, man denke dabei etwa an den Massenmörder Stalin, typisch für Russland.

Allerdings hat Putin selbst offenbar panische Angst vor einer Corona-Infektion, zudem beschäftigt er Presseberichten zufolge angeblich einen oder mehrere Vorkoster. Er, der mutmaßliche Drahtzieher der Giftanschläge auf Alexander Litwinenko, Sergei Skripal und Alexei Nawalny, muss subjektiv begründeten Anlass zur Furcht haben. Und wie der Blick in die Geschichtsbücher zeigt, leben Autokraten, vor allem solche, die den Bezug zur Realität verlieren und ihr Umfeld mit in den Abgrund zu reißen drohen, zweifelsohne extrem gefährlich. Da braucht es nur einen zu geben, der noch ein Fünkchen Verstand beisammen hat, und der Autokrat wird entmachtet. Falls er dabei sein Leben verliert - so what? Im Notfall ist sich jeder selbst der Nächste. Putin hat das ukrainische Militär vergeblich aufgefordert, Selenskyj zu stürzen. Ein Schicksal, das er nun selbst erleiden könnte.

Der russische Präsident hat die Befehlsgewalt über die Atomstreitkräfte. Sollte er sich in die Enge getrieben fühlen und deshalb einen sinnlosen, von Rachegelüsten geleiteten Armageddon-Befehl erteilen, findet sich hoffentlich rechtzeitig irgendjemand in der Befehlskette, der das Ganze unterbindet. Wenn es nicht anders geht mit Gewalt. Nur Verrückte können nicht mit Niederlagen leben und treiben lieber ihr Zerstörungswerk auf die Spitze. Man muss darauf bauen, dass im Moskauer Führungskreis nicht alle total unvernünftig geworden sind.