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23. April 2022, von Michael Schöfer
Was hätte Churchill dazu gesagt?


"So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzig realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg." Nein, das ist kein Zitat aus einem Brief an Winston Churchill aus dem Jahr 1940, sondern die Forderung deutscher Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker im April 2022. Und sie wurde nicht unter dem Eindruck des drohenden Schicksals der britischen Armee in Dünkirchen verschickt, sie erging vor dem Hintergrund der Massengräber in Butscha und Mariupol. Oder sagen wir: trotz der Massengräber. "Wir fordern daher die Bundesregierung, die EU- und NATO-Staaten auf, die Waffenlieferungen an die ukrainischen Truppen einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militärischen Widerstand - gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung - zu beenden." [1]

Diese Forderung ist an Niedertracht kaum zu überbieten, die Ukraine soll sich also in ihr Schicksal fügen. Übertragen auf die Situation von 1940 hieße das: "Briten, gebt euren Widerstand gegen Hitler auf, denn er macht alles nur noch schlimmer und zieht den Zweiten Weltkrieg unnötig in die Länge. Obgleich Hitler alle Verträge gebrochen und schlimme Kriegsverbrechen begangen hat, von den Konzentrationslagern ganz zu schweigen, sollt ihr mit ihm auf diplomatischem Wege eine Verständigungslösung suchen." Der offene Brief atmet den Geist Chamberlains. Dabei wissen wir doch aus der Geschichte, dass Appeasement einen Bastard nur dazu ermutigt, sich weiterhin wie ein Bastard zu benehmen, der ein Opfer nach dem anderen zerfleischt.

Man muss Wladimir Putin genauso entgegentreten wie seinerzeit Adolf Hitler: "Wir werden bis zum Ende gehen. Wir werden in Frankreich kämpfen, wir werden auf den Meeren und Ozeanen kämpfen. Wir werden mit wachsender Zuversicht und wachsender Stärke in der Luft kämpfen. Wir werden unsere Insel verteidigen, wie hoch auch immer der Preis sein mag. Wir werden an den Stränden kämpfen, wir werden an den Landungsplätzen kämpfen, wir werden auf den Feldern und auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Hügeln kämpfen. Wir werden uns nie ergeben." (Rede von Winston Churchill am 4. Juni 1940 vor dem britischen Unterhaus) Denn es ist wahr: "Sie fragen: Was ist unser Ziel? Ich kann es Ihnen in einem Wort nennen: Sieg - Sieg um jeden Preis, Sieg trotz allem Schrecken, Sieg, wie lang und beschwerlich der Weg dahin auch sein mag, denn ohne Sieg gibt es kein Weiterleben." (Rede von Winston Churchill am 13. Mai 1940 vor dem britischen Unterhaus)

Der Westen darf die Ukraine nicht aufgeben. Und wir sollten sie auch nicht auffordern, sich selbst aufzugeben und zu kapitulieren. Nach den Kriegsverbrechen von Butscha und Maiupol gibt es kein zurück mehr zum Status quo ante. Bereits vor Kriegsbeginn gab es zahlreiche Versuche, den Krieg mit Diplomatie zu verhindern. Wir erinnern uns an Scholz und Macron an dem grotesk langen weißen Tisch. Putin hat alle belogen, ihm ist daher nicht zu trauen. Man muss verhindern, dass er seine militärische Macht zur Unterdrückung einsetzen kann. Das geht offenbar nur mit militärischem Widerstand. Wann, wenn nicht jetzt, wollen wir dem Diktator Grenzen ziehen? Wenn er nach der Ukraine die baltischen Staaten angreift? Wenn er in Moldawien oder Polen einmarschiert? Wenn seine Truppen Berlin besetzen? Wir stehen jedes Mal vor der gleichen Entscheidung: Weichen oder standhalten? Furchtsam oder mutig sein? Ich sage: mutig standhalten!

Außerdem muss man Russland wirtschaftlich total boykottieren und damit ruinieren. Dauerhaft. Zumindest bis zum Sturz Putins. Hätte Winston Churchill die Kriegsmaschinerie Hitlers mit Devisen gefüttert? Hätte er gesagt: "Wir werden bis zum Ende gehen. (...) Wir werden unsere Insel verteidigen, wie hoch auch immer der Preis sein mag. (...) Wir werden uns nie ergeben. Äh, aber vielleicht erst ab Jahresende."? Unvorstellbar. Russland ist verwundbar, außer Rohstoffen exportiert es so gut wie nichts. Russische Autos, russische Maschinen, russische Computer oder russische Konsumgüter sind auf dem Weltmarkt faktisch inexistent, weil nicht konkurrenzfähig oder schlicht nicht vorhanden.

Beispiel: Moskau will angesichts der westlichen Sanktionen eine heimische Chipfertigung aufbauen, noch in diesem Jahr will man mit der Herstellung eines eigenen Computerchips beginnen - mit 90 Nanometer-Technik, bis 2030 will man dann 28 nm geschafft haben. [2] Zum Vergleich: 28 nm ist der Stand von 2011, Ende 2022 will der taiwanesische Hersteller TSMC mit 3 nm-Strukturen arbeiten, 2025 sollen dort Chips mit 2 nm-Technik hergestellt werden. [3] Mit anderen Worten: Russland hat auf absehbare Zeit keine Chance. Und ohne leistungsfähige Computerchips läuft nichts.

Wenn wir dem Kriegsverbrecher kein Öl und Gas mehr abkaufen, kollabiert die russische Wirtschaft. So verhindern wir, dass Putin die Verluste seiner Armee ausgleicht, um sie anschließend in andere Länder zu schicken.

Keine nennenswerten Exporte außer Rohstoffen [4]

Anders als 1914 ist hierzulande keine Kriegsbegeisterung zu spüren. Zum Glück. Und anders als 1939 stehen die Deutschen diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte. Letzteres jedoch bedauerlicherweise so zögerlich, dass man daran fast verzweifeln könnte. Natürlich darf es, wie Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, keinen Atomkrieg geben, er könnte den Untergang der Menschheit bedeuten, aber wir müssen ungeachtet dieser Gefahr alles dafür tun, um eine Niederlage der Ukraine zu verhindern. Allerdings hat sich Olaf Scholz als Zauderer entpuppt, er taucht oft tagelang ab und kann seine Politik nicht einmal klar und deutlich erläutern. Nach jedem Interview ist man ratloser als zuvor. An der Spitze unserer Regierung steht, man muss es leider so hart formulieren, ein Leisetreter ohne Format. Keiner, der in stürmischen Zeiten als prinzipienfester Fels in der Brandung steht. Keiner, dem sich die Bevölkerung anvertrauen kann.

Die meisten haben Putin sträflich unterschätzt. Ich habe mich das selbst gefragt. Zum ersten Mal wurde Putin hier auf dieser Website im Jahr 2005 erwähnt - und er ist dabei schon damals nicht gut weggekommen. [5] Andere fragten noch früher: "Warum nett sein zu Putin?" Etwa Daniel Brössler in der Süddeutschen Zeitung vom 20.10.2004. [6] Chapeau! Warum ist Politikern, die viel näher an ihm dran waren (Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel, Edmund Stoiber und vor allem Gerhard Schröder), nicht genauso gelungen, den Diktator frühzeitig zu durchschauen?

Es ist keine Kriegsrhetorik, wenn wir jetzt endlich aufwachen. Die westlichen Demokratien stehen abermals in einem Überlebenskampf. Unsere Generation muss jetzt standhaft Freiheit und Menschenrechte verteidigen. Das geht nicht mit Appeasement. Und schon gar nicht mit einer "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass"-Haltung. Bei einem Gasboykott droht eine Rezession? Na und? Ist es uns das nicht wert? Was hätte Churchill dazu gesagt?

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[1] Berliner Zeitung vom 22.04.2022
[2] Heise.de vom 20.04.2022
[3] WinFuture vom 20.04.2022
[4] Der Standard vom 02.04.2022
[5] siehe Bestie Mensch vom 03.04.2005
[6] Twitter, @dbroessler vom 18.04.2022