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01. Mai 2022, von Michael Schöfer
Intellektuelle Fehlleistung


Erneut wurde ein offener Brief veröffentlicht, der sich gegen die drohende Gefahr eines dritten Weltkrieges wendet, diesmal in der Zeitschrift "Emma" von Alice Schwarzer. [1] Die Unterzeichner warnen vor einem Weltkrieg, in dem es zur Anwendung von Atomwaffen kommen könnte. Die nukleare Auseinandersetzung hätte in der Tat fatale Folgen für die gesamte Menschheit, weshalb man dieses Risiko keinesfalls verharmlosen oder negieren sollte. Dennoch unterlaufen diesen 28 Intellektuellen und KünstlerInnen in ihrem "Offenen Brief an Kanzler Scholz" eklatante Denkfehler.

Dort heißt es u.a.: "Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen (...) könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen."

Natürlich besteht immer die Gefahr, dass uns Wladimir Putin einseitig als (de facto) Kriegspartei definiert, nach vorherrschender Auslegung des Völkerrechts sind wir es allerdings (de jure) nicht. Wenn wir Russland die Definitionshoheit einräumen, müssten wir folgerichtig jegliche Hilfe für die Ukraine einstellen, weil uns in den Augen des Kreml auch die Lieferung von leichten Defensivwaffen zur Kriegspartei machen könnte. Es bleiben also abgesehen von der aktiven Kriegsbeteiligung, die keiner wünscht, lediglich zwei Möglichkeiten: Entweder wir schauen wegen der Angst vor einer Eskalation der russischen Aggression aus vermeintlich sicherer Distanz teilnahmslos zu und nehmen sehenden Auges die Niederlage der Ukraine in Kauf, was aber nicht zuletzt nach den Kriegsverbrechen von Butscha und Mairupol kaum zu rechtfertigen ist. Oder wir bewegen uns weiterhin in den überkommenen Grenzen des Völkerrechts und unterstützen die Ukraine bei ihrer gemäß der Charta der Vereinten Nationen zulässigen Selbstverteidigung.

Im offenen Brief heißt es weiter: "Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis." Wenn man diesen - im Übrigen bevormundenden - Maßstab anlegt (was noch tragbar erscheint, entscheiden allein die Betroffenen), hätte damals die Sowjetunion vor Hitler kapitulieren müssen, weil der Widerstand gegen die Invasion (Unternehmen Barbarossa) zu unverhältnismäßig hohen Kosten führte, schließlich fielen dem Angriffskrieg der Nazis 27 Millionen Sowjetbürger zum Opfer (14,2 % der Bevölkerung von 1939). Übertragen auf die Ukraine (ohne die Bevölkerung der Krim) wären das 5,9 Millionen Tote. Davon sind wir zum Glück noch weit entfernt.

Zudem unterstellt diese Sichtweise, dass eine Kapitulation kein weiteres Leid verursacht. Was mit den laut nationalsozialistischer Ideologie "slawischen Untermenschen" nach einem Sieg Hitlers passiert wäre, ist hinlänglich bekannt. Von der dort ansässigen jüdischen Bevölkerung ganz zu schweigen. Die Sowjetunion wäre als Staat eliminiert worden und hätte den Deutschen fortan als "Lebensraum im Osten" gedient, die "slawischen Untermenschen" wären allenfalls noch als Arbeitssklaven geduldet gewesen. Nebenbei sei erwähnt, dass der letztlich erfolgreiche Widerstand der Alliierten im Zweiten Weltkrieg entscheidend durch die Unterstützung der Amerikaner (Leih- und Pachtgesetz) beeinflusst wurde. Ohne massive Waffenlieferungen an Großbritannien und die UdSSR hätte Hitler vielleicht sogar gesiegt.

Was Putin in der Ukraine plant, hat er selbst gesagt: Zweck des als "Spezialoperation" verharmlosten Angriffskrieges sei, "die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren und diejenigen vor Gericht zu bringen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschließlich russischer Bürger, begangen haben." [2] Klingt verdächtig nach einer Säuberung à la Stalin. Kurz zuvor sprach er der Ukraine in seiner "historischen" Einordnung jegliche Staatlichkeit ab: "Die Ukraine hätte laut Putin keine 'echte Staatlichkeit' gehabt, sondern sei nur ein Fehlkonstrukt des kommunistischen Führers Lenin gewesen. In vielen Passagen klang Putin wie der reaktionäre, russische Publizist Michail Katkow im 19. Jahrhundert. Katkow sagte 1863: 'Die Ukraine hatte nie eine eigene Geschichte, hatte nie einen eigenen Staat, das ukrainische Volk ist seit jeher ein rein russisches Volk, ohne welches das russische Volk nicht weiter sein kann, was es jetzt ist.'" [3] Nach dem Fund von Massengräbern ist unschwer zu erkennen, welche Folgen eine Kapitulation hätte, sie käme einem Völkermord gleich.

Alexander Kluge, einer der Unterzeichner, bezeichnet sich selbst als "Intellektueller". Im Deutschlandfunk hat er seine Haltung erläutert: Man dürfe "nicht weiter Öl ins Feuer gießen", fordert der Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller, Drehbuchautor, bildende Künstler, Philosoph und Rechtsanwalt. "Aus dem Krieg kann man nur lernen, dass man ihn so schnell wie möglich beendet." Laut Kluge soll man "weder nach der einen noch der anderen Seite Waffen liefern, sondern eine Vermittlung entwickeln und beide Seiten zwingen, so schnell wie möglich Frieden zu machen." Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung im Zweiten Weltkrieg bekundet er: "Ich war froh, dass die weißen Fahnen wehten. (...) Ich war froh, als die amerikanischen Soldaten einmarschierten. Froh, dass es zu Ende ist. Kapitulation ist nichts Böses, wenn es den Krieg beendet." Man müsse versuchen, zu "irgendeinem Kompromiss zu kommen". Der Wiederaufbau setze voraus, dass man vorher "so schnell wie möglich und um jeden Preis Frieden macht". Deutschland werde "von einer ganz kleinen Gruppe von [ukrainischen] Politikern", die nicht "identisch mit der [ukrainischen] Bevölkerung" sei, "gewissermaßen durch Moralisierung erpresst". [4]

Die Antwort, wie man beide Seiten in Verhandlungen zu einem Frieden zwingen könnte, bleibt er indes schuldig. It takes two to tango - aber Putin hat bislang keine wie auch immer geartete Kompromissbereitschaft erkennen lassen. Verhandlungsversuche gab es ja zuhauf. Und wie ein akzeptabler Kompromiss aussehen könnte, ist ebenfalls offen. Zur Erinnerung: Putin hat im Dezember 2021 viel weitreichendere Ziele verkündet, er will nämlich den Rückzug der Nato auf den Stand von 1997, was u.a. die baltischen Staaten und Polen schutzlos seiner Willkür ausliefern würde. Kluges schwerster Denkfehler ist allerdings: 1945 haben die Täter (die Deutschen) kapituliert, jetzt fordert er jedoch, das Opfer (die Ukraine) möge kapitulieren. 1945 befreiten uns die amerikanischen Soldaten von der Nazi-Diktatur, heute kommen die russischen Soldaten als Besatzer und Mörder in die Ukraine. Das sind zwei völlig unterschiedliche und nicht vergleichbare Situationen. Das Töten wäre - anders als 1945 - mit einer Kapitulation keineswegs vorbei, wie die bereits begangenen Kriegsverbrechen hinreichend belegen. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die sogenannte "Entnazifizierung" einen Völkermord zum Ziel hat. Wie kann diesem selbsternannten "Intellektuellen" ein solch krasser Denkfehler unterlaufen? Obendrein die Hilferufe der - im Unterschied zu Putin in freier Wahl gewählten - ukrainischen Politiker als moralische Erpressung einer Minderheit zu diffamieren, ist befremdlich. Was an der Forderung nach Einhaltung des Völkerrechts und Beendigung des Mordens ist (im von Kluge negativ konnotierten Sinne) "moralisch"?

Der offenkundige Fehler bei derartigen Appellen ist generell, dass sie keine praktikablen Vorschläge enthalten. Sie raten dem Vergewaltigungsopfer nur, sich doch bitte nicht so heftig zu wehren, weil uns das möglicherweise ebenfalls beeinträchtigen könnte. Das ist Zynismus in Reinkultur. Oder wie es der Tagesspiegel-Korrespondent Paul Starzmann so wunderbar ironisch formulierte: "Was geht die Ukraine auch alleine und im kurzen Rock nachts auf die Straße! Schöne Grüße, eure #Emma" [5]

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[1] Emma vom 29.04.2022
[2] Die Zeit-Online vom 24.02.2022
[3] ZDF vom 21.02.2022
[4] Deutschlandfunk vom 29.04.2022