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08. Mai 2022, von Michael Schöfer
Putins Großmachtträume enden in einem Fiasko


Diktatoren lieben es, Soldaten im Gleichschritt an der Tribüne der Machthaber vorbeimarschieren zu lassen, während die uniformierten Befehlshaber der Streitkräfte ostentativ mit entschlossener Miene salutieren und die mit zahlreichen Blechorden bestückte Brust herausstrecken. Sie präsentieren ihre modernsten Waffen und halten obendrein martialische Reden. "Wer Freude daran empfindet im Gleichschritt zu marschieren, hat sein Gehirn aus Versehen bekommen", bemerkte dazu ein gewisser Albert Einstein. Der geniale Physiker wusste, dass die eigentliche Zukunft eines Landes nicht beim Militär zu finden ist, sondern sich vielmehr auf die Kreativität der Wissenschaftler und Ökonomen stützt. Das historische Russland ist hierfür das beste Beispiel: Nach innen autoritär, nach außen aggressiv, hinkte es in seiner gesellschaftlichen und technischen Entwicklung anderen stets hinterher. Warum? Brutale Unterdrückung, Engstirnigkeit und soziale Erstarrung fördern keine Talente, sie festigen beim Volk nur den aus Angst geborenen Kadavergehorsam. Und unter Wladimir Putin droht jetzt sogar der Absturz.

Ein Land, das so reich mit Rohstoffen gesegnet ist wie Russland, könnte kulturell und ökonomisch in der Spitzengruppe der Staatengemeinschaft mitspielen, doch es versinkt in Korruption, Rechtlosigkeit und daraus resultierender Ineffizienz. Der Reichtum des Landes kommt nämlich bloß einer kleinen Minderheit zugute, die Masse muss sich zwangsläufig mit viel bescheideneren Lebensverhältnissen abfinden. Putins opulenter Palast an der Küste des Schwarzen Meeres steht im harten Kontrast zu den beengten Unterkünften der Bevölkerungsmehrheit. [1] Nach Angaben der Weltbank beträgt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Russland umgerechnet 10.126 US-Dollar, in Deutschland sind es mit 46.252 US-Dollar viereinhalbmal soviel. [2] Schon bisher war das Wohlstandsgefälle zum Westen enorm, und die aktuelle Tendenz für Russland ist mit "stark fallend" vermutlich korrekt beschrieben. Zudem ist das Einkommen dort ungleicher verteilt als andernorts: Knoema zufolge beträgt der Gini-Koeffizient in der Russischen Föderation 43,9 - in Deutschland hingegen 29,0 (Erläuterung: Je höher, desto ungleicher). [3]

Die ökonomischen Aussichten sind düster: Wegen des Angriffskrieges und den Kriegsverbrechen in der Ukraine wird sich der Westen dauerhaft von Russland abwenden, die dortigen Erdöl- und Erdgaskonzerne müssen sich gezwungenermaßen andere Abnehmer suchen. Ob sie adäquaten Ersatz finden, bleibt abzuwarten. Investoren und Unternehmen werden jedenfalls auf Jahrzehnte hinaus einen großen Bogen um Putins Reich machen, dafür sorgen neben den Sanktionen nicht zuletzt die Enteignungsdrohungen bzw. die bereits erfolgten faktischen Enteignungen (Nichtherausgabe und rechtswidrige Weiternutzung geleaster Passagiermaschinen im Wert von 18,2 Mrd. Euro). Russland hat sich selbst auf unabsehbare Zeit von westlicher Hochtechnologie abgeschnitten, ob es dieses Manko durch Eigenentwicklungen kompensieren kann, ist höchst ungewiss. Lieferketten (Zuliefer- u. Ersatzteile) werden reißen und russischen Unternehmen massive Probleme bescheren. Dagegen nützen dann auch keine Drohungen mit dem Atomkrieg. Kurzum, Putins Großmachtträume werden wahrscheinlich in einem Fiasko enden. Und eine Militärparade kann darüber nur kurze Zeit hinwegtäuschen.

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[1] taz vom 12.04.2021, durchschnittliche Wohnfläche pro Person in Russland 26 qm, in Deutschland 47 qm, Stand jeweils 2019
[2] Weltbank, Excel-Datei mit 359 KB, Stand jeweils 2020
[3] Knoema, Weltdatenatlas, Russland und Deutschland, Stand jeweils 2018