Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



10. Mai 2022, von Michael Schöfer
Von Deutschland lernen heißt verlieren lernen


Bis 1989 stand in der DDR die deutsch-sowjetische Freundschaft unter dem eingängigen Motto: "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen." Nun wäre es damals auch vermessen gewesen, wenn nach dem von Deutschland entfachten Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust andere von uns etwas lernen sollten. Galt in Westdeutschland in der Zeit des Wirtschaftswunders schnell die Parole "Wir sind wieder wer", hielt Ostdeutschland unter der Knute der SED lange Zeit am Leitspruch der deutsch-sowjetischen Freundschaft fest. Bis sich in Ostdeutschland überall herumgesprochen hatte, dass man von der Sowjetunion doch nicht so viel lernen konnte, vor allem auf dem Gebiet der Ökonomie, war es für die Machthaber längst zu spät. Ironischerweise machte den verknöcherten Erich Honecker darauf ausgerechnet der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow aufmerksam ("Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben"), denn was der SED-Chef von der Sowjetunion partout nicht lernen wollte, waren Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit). Wir wissen, wer recht behielt.

Nun hat sich Wladimir Putin, der den Zerfall der Sowjetunion einmal als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnete, auf einen Weg gemacht, der uns Deutschen ziemlich bekannt vorkommt. Putin träumt von einer Großmachtrolle Russlands, stellt Gebietsansprüche, überfällt Nachbarländer und baut in rasendem Tempo eine totalitäre Diktatur auf. Die deutsche Borniertheit und Aggressivität hat Europa zweimal ins Unglück gestürzt, beide Weltkriege haben die Deutschen verloren. Aber sie haben daraus gelernt, sind nun, wie unsere Verbündeten neuerdings überrascht feststellen, vielleicht sogar ein bisschen zu zivil geworden. Surprise, surprise: Den ehemaligen Militaristen wird ein Hang zum Pazifismus nachgesagt. Wie dem auch sei: Wäre Putin klug, würde er sein Handeln unter das Motto stellen: "Von Deutschland lernen heißt verlieren lernen."

Hatte die Weimarer Republik nach dem Frieden von Versailles noch mit heftigen Phantomschmerzen (der Abtretung von Gebieten im Osten und Westen) zu kämpfen, fand sich die Bundesrepublik nach der Schmach der Nazi-Diktatur endgültig mit dem Verlust der 1945 jenseits der Oder-Neiße-Grenze verlorenen Territorien ab. Artikel 1 Abs. 1 des Zwei-plus-Vier-Vertrags von 1990 hielt unmissverständlich fest: "Das vereinte Deutschland wird die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfassen. Seine Außengrenzen werden die Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland sein und werden am Tage des Inkrafttretens dieses Vertrags endgültig sein. Die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschland ist ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa." Eine weise Entscheidung, ohne die die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen wäre.

"Von Deutschland lernen heißt verlieren lernen", wenn sich das doch bloß der russische Präsident zu eigen machen würde:  Er würde seine Niederlage in der Ukraine eingestehen und die russischen Soldaten aus dem überfallenen Land abziehen - inklusive dem Donbass und der Krim. Er würde künftig auf sämtliche Gebiets- und Hegemonialansprüche verzichten, seine - gemessen an der Wirtschaftskraft - viel zu große Armee abrüsten und mit allen Nachbarländern in friedlicher Koexistenz leben. "Von Deutschland lernen heißt verlieren lernen" bedeutet auch: tolerant und demokratisch werden, die Wirtschaft fördern und den Rechtsstaat entwickeln, lieber Handel treiben anstatt auf andere schießen, der Presse und der Kultur die notwendige Luft zum Atmen geben, aus der paranoiden Angstspirale aussteigen und den chronischen Minderwertigkeitskomplex überwinden. "Von Deutschland lernen heißt verlieren lernen" meint: Aus Niederlagen etwas machen und wie Phönix aus der Asche auferstehen. Tut zwar anfangs tierisch weh, entpuppt sich jedoch mit der Zeit als die beste Lösung ever. Schade, dass Putin dazu mit seinen Kriegsverbrechen die Tür zugeschlagen hat. Aber vielleicht wird’s ja was mit seinem Nachfolger.