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| Impressum 14. Mai 2022, von Michael Schöfer Wladimir Putin hat sich mächtig verkalkuliert Es wird einsam um Putin, und das hängt nicht bloß an der Resolution der UN-Generalversammlung, in der fast drei Viertel der Mitgliedstaaten (141 von insgesamt 193) den russischen Überfall auf die Ukraine verurteilten. Gemeinsam mit Russland stimmten bei 35 Enthaltungen und 12 Nichtteilnehmern weitere vier Länder dagegen: Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien. Putin stehen also nur noch wenige, schwer in Verruf geratene Diktatoren zur Seite, die Demokratien erweisen sich mithin durchsetzungsfähiger und geschlossener als gedacht. Wladimir Putin, der große geopolitische Stratege (Achtung: Ironie), hat bislang keines seiner Ziele erreicht. Knapp drei Monate nach dem Beginn des Kriegs widersteht die Ukraine noch immer den Angriffen der russischen Armee. Im Gegenteil, die ukrainische Armee hat sie teilweise aus anfangs besetzen Gebieten zurückgedrängt und fügt ihr anhaltend hohe Verluste zu. In den Augen vieler ist die ehedem gefürchtete russische Armee zu einer Potemkinschen Armee mutiert, hat sie doch anstatt modernen Waffensystemen überwiegend veraltetes Gerät aus sowjetischer Zeit in den Einsatz geschickt. Ist die Modernisierung im Korruptionssumpf steckengeblieben? Obendrein erwies sie sich als taktisch unbeholfen, logistisch schlecht vorbereitet und miserabel motiviert. In Kiew regiert wie zuvor Präsident Wolodymyr Selenskyj, der mittlerweile beliebter ist denn je und in den Augen der Weltöffentlichkeit Heldenstatus erlangt hat ("Der Kampf ist hier. Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit."). Im Gegensatz zu Putin, der sich mit der zweifelhaften Ehre schmücken darf, Kriegsverbrecher, Lügner und Diktator genannt zu werden. An seinen Händen klebt das Blut der Ermordeten, Gefolterten und Vergewaltigten. Der Kremlherrscher forderte die NATO im Dezember 2021 ultimativ auf, zum Stand von 1997 zurückzukehren, also ihre Osterweiterung durch ehemalige Mitglieder des Warschauer Pakts (Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Slowakei) und früheren Teilrepubliken der UdSSR (Estland, Lettland, Litauen) rückgängig zu machen. Putin hat allerdings genau das Gegenteil erreicht: Angesichts des russischen Angriffskrieges und den unverhohlenen Drohungen Putins mit einem Atomkrieg geben Finnland und Schweden wahrscheinlich ihre traditionelle Neutralität auf und werden so schnell es irgend geht dem Bündnis beitreten. Die NATO wird somit größer anstatt kleiner. Sieht man sich die Landkarte genauer an, wären dann fast alle europäischen Demokratien Mitglied der NATO, es bleiben bloß noch Irland, Österreich und die Schweiz übrig, die aber seit langem NATO-Partnerländer sind. Die Ukraine würde ebenfalls gerne beitreten, was aber derzeit aufgrund der widrigen Umstände ausscheidet. Der große geopolitische Stratege wollte die Demokratien spalten, hat sie indes noch enger zusammengeschweißt. Das wird hoffentlich auch in China registriert, das sich gefährlich nahe am Rand der selbst aufgestellten Falle bewegt. Kurz vor Kriegsbeginn wurde beim Besuchs Putins in Peking von Xi Jinping die strategische Partnerschaft zwischen Russland und der Volksrepublik bekräftigt, das war der demonstrative Schulterschluss der totalitären Systeme gegen die liberalen Demokratien des Westens. Die Fronten waren scheinbar geklärt, doch trotz der ideologischen Nähe ist Chinas Unterstützung für Russland bislang recht verhalten ausgefallen. Und das hat seinen Grund: Xi Jinping fürchtet westliche Sanktionen, die Wucht der Sanktionen gegen Russland dürfte auch ihn beeindruckt haben. Xi riskiert viel, denn sein Land hat im Westen ökonomisch wesentlich mehr zu verlieren als es in Russland gewinnen könnte - selbst wenn sich, was derzeit der Fall ist, der bilaterale Handel der beiden Diktaturen stark erhöht.
Russland, 2020 mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 10.126 US-Dollar sowieso lediglich auf dem bescheidenen Niveau von Malaysia (10.412 US-Dollar), wird - Putin sei Dank - durch die westlichen Sanktionen in naher Zukunft aller Voraussicht nach ärmer. Das stark von hohen Außenhandelsüberschüssen abhängige China wird mit den vergleichsweise armen 144 Millionen Einwohnern Russlands nie so viel verdienen wie mit den bedeutend wohlhabenderen 447 Millionen Einwohnern der EU (BIP pro Kopf 34.173 US-Dollar) und den 331 Millionen Einwohnern der USA (BIP pro Kopf 63.206 US-Dollar). [2] Von Großbritannien, Kanada, Japan, Südkorea, Taiwan und Australien ganz zu schweigen. Anders ausgedrückt: Sich noch enger an Russland zu binden, könnte sich für China als ziemlich kostspielig erweisen. Und eine Invasion der Republik China (Taiwan) genauso.
Wladimir Putin hat sich mächtig verkalkuliert und wird wohl
keines seiner hochgesteckten Ziele erreichen, vielmehr hat er
sich selbst schier ausweglos in eine Sackgasse manövriert. Da
steckt er nun ohne Wendemöglichkeit fest. Angesichts der
Kriegsverbrechen in Butscha oder Mariupol kann er sich kaum
noch gesichtswahrend zurückziehen, ihm droht nämlich ein
Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Er könnte tief fallen. Und die Welt rätselt, wie er da je
wieder herauskommen will, was der ohnehin gefährlichen
Situation zweifellos zusätzliche Brisanz verleiht. Doch man
muss hoffen, dass ihn ein paar Vernünftige seines Umfelds oder
in der militärischen Befehlskette vom Ersteinsatz der
russischen Atomwaffen abhalten, denn eine nukleare Eskalation
würde keiner schadlos überstehen.
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[1] Germany Trade and Invest (GTAI), Chinas Außenhandel boomt trotz globaler
Herausforderungen vom 09.02.2022 und China und Russland rücken näher zusammen
vom 10.02.2022
[2] Weltbank, Excel-Datei mit 359 KB
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