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18. Mai 2022, von Michael Schöfer
Eine ominöse Faustregel

Immer wieder begegnet man dem Rat von "Finanzexperten", gerade in Zeiten erhöhter Inflation auf Aktien zu setzen. Nicht völlig falsch, aber trotzdem nicht in jedem Fall richtig, denn dabei kommt es natürlich auf die individuelle Lebenssituation des Anlegers an. Für rentennahe Jahrgänge können sich die volatilen Aktienmärkte rasch zum Fiasko entwickeln, weil man im fortgeschrittenen Alter keine Zeit mehr hat, eine längere Baisse auszusitzen. Bevor die Börse wieder ins Plus dreht und die Aktien in Relation zum eingesetzten Kapital eine Rendite abwerfen, ist man vielleicht schon tot.

Oft wird als vermeintlich inflationssichere Anlage eine Beimischung von Gold in Höhe von 5 oder 10 Prozent empfohlen [1], allerdings unterliegt der Goldpreis ebenfalls starken Schwankungen. Generell gilt: Selten finden Privatanleger den optimalen Zeitpunkt für den Ein- bzw. den Ausstieg. Wenn sich die Herde bereits in Bewegung gesetzt hat, ist es nämlich in der Regel zu spät. Außerdem bringt Gold keine Zinsen. Im Gegenteil, die sichere Aufbewahrung von physischem Gold kostet sogar Geld.

Was die "Finanzexperten" so gut wie nie erwähnen ist die Unmöglichkeit, ihrem Rat auch tatsächlich folgen zu können. Rechnen wir mal nach:
  • Bargeldbestand der deutschen Haushalte 2021: 2.148,6 Mrd. Euro [2]
  • Preis für eine Feinunze Gold: 1.720,73 Euro [3]
  • 5 Prozent des Bargeldbestands = 107,4 Mrd. Euro = 62,4 Mio. Feinunzen
  • 10 Prozent des Bargeldbestands = 214,9 Mrd. Euro = 124,9 Mio. Feinunzen
  • 1 Feinunze = 31,1034768 g [4]
  • Weltweite Goldförderung 2021: 3.000 t [5] = 96,5 Mio. Feinunzen
Bei einer Beimischung von 5 Prozent würden allein die Deutschen 64,7 Prozent der gesamten globalen Goldförderung eines Jahres in ihr Anlageportfolio aufnehmen. Für andere Länder bliebe dann nicht mehr allzu viel übrig. Von anderweitigen Verwendungszwecken, zum Beispiel der Schmuckproduktion, ganz zu schweigen. Bei einer Beimischung von 10 Prozent wären es sogar 129,5 Prozent der gesamten globalen Goldförderung, was naturgemäß völlig unmöglich ist. Dafür, dass alle den Rat der "Finanzexperten" befolgen, gibt es gar nicht genug Gold.

Es sei denn, die Zentralbanken würden ihre Goldreserven veräußern, was aber unwahrscheinlich ist. Doch selbst wenn, im berühmten Fort Knox lagern derzeit lediglich 147,3 Mio. Feinunzen (Stand: 21.03.2021). [6] Bei der Federal Reserve Bank in New York waren es vor ein paar Jahren ca. 257,2 Mio. Feinunzen. [7] Selbst das ist nicht genug, um sämtliche Anlegerwünsche zu erfüllen. Ende 2021 betrug die Geldmenge M1 (Bargeldumlauf, Sichteinlagen) in der Euro-Zone unvorstellbare 11,3 Billionen Euro [8], 10 Prozent davon wären 656,7 Mio. Feinunzen - wesentlich mehr als in den USA lagern. Und jetzt reden wir noch nicht einmal über die Geldmenge in China, Japan und den USA oder über das wesentlich umfangreichere längerfristig angelegte Geldvermögen.

Dies zeigt, wie absurd solche Empfehlungen sind. Mein Eindruck: Da wird ohne groß nachzudenken eine völlig willkürliche Faustregel (5 oder 10 % Beimischung) nachgeplappert, weil man sie überall liest oder in irgendwelchen Finanzseminaren aufgeschnappt hat. Kritisch hinterfragt wird die Faustregel offenbar nicht. Und Ratschläge, die nicht funktionieren, sind wertlos. Auf wen diese ominöse Faustregel zurückzuführen ist und welche Interessen damit verbunden waren, ist unklar. Würde mich nicht wundern, wenn sie ein cleverer Goldhändler erfunden hätte.

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[1] tagesschau.de vom 18.05.2022 oder Focus Money-Online vom 16.05.2022
[2] Statista, Bargeld und Sichteinlagen der privaten Haushalte in Deutschland von 1999 bis 2021 (Sichteinlagen sind Guthaben auf Giro- oder Tagesgeldkonten)
[3] Stand: 18.05.2022 08:46:00 Uhr, abgerufen bei finanzen.net
[4] Wikipedia, Feinunze
[5] Statista, Minenproduktion von Gold nach den wichtigsten Ländern im Jahr 2021
[6] Wikipedia, Fort Knox
[7] Wikipedia, Federal Reserve Bank of New York
[8] Statista, Entwicklung der Geldmenge M1 in der Euro-Zone von 1997 bis Dezember 2021