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07. Juli 2022, von Michael Schöfer
Oh, immer diese Schaumschläger!


Kein Zweifel, der britische Premierminister Boris Johnson ist ein notorischer Lügner und wird deshalb auch in den eigenen Reihen immer härter kritisiert. Die Tragik - nicht nur der britischen - Politik ist freilich, dass die Alternativen oft nicht besser sind. Nehmen wir beispielsweise den gerade zurückgetretenen Schatzkanzler Rishi Sunak, der sich schon früh als potenzieller Nachfolger positionierte. Er sei ein "Anti-Populist", charakterisierte ihn "Die Zeit" vor zwei Jahren. "Sunak tritt staatsmännisch auf, ganz das Gegenteil von Johnson: ruhig und besonnen, seine Reden klar strukturiert, präzise und brillant vorgetragen, nie populistisch, immer sachlich, und dies alles mit großer Autorität." [1]

Offenbar alles nur Fassade, ein für die Öffentlichkeit zurechtgezimmertes Image. Vor kurzem ließ sich nämlich der vermeintliche "Anti-Populist" nach der Senkung der Kraftstoffsteuer demonstrativ beim Tanken ablichten. Nur dumm, dass ihm, einem der reichsten Briten, der Kleinwagen, den er betankte, ein roter Kia Rio, gar nicht selbst gehörte. Er hatte ihn sich eigens für die Fotos von einem Mitarbeiter des Tankstellenbetreibers ausgeliehen. Der frühere erfolgreiche Investmentbanker, der zudem mit der betuchten Tochter eines indischen Milliardärs verheiratet ist (geschätztes gemeinsames Vermögen 730 Mio. Pfund = 854 Mio. Euro), wollte sich anscheinend bei den unter hohen Energiepreisen leidenden Normalbürgern in populistischer Manier anbiedern. Motto: "Ich bin doch einer von euch." Das ging jedenfalls gründlich daneben. [2]

Zu Sunaks großem Verdruss kam obendrein heraus, dass seine Frau einen besonderen Steuerstatus (non-domiciled) nutzte, um ihre immensen Einkünfte in Großbritannien kaum versteuern zu müssen. Der "Guardian" schätzt, dass sie durch die Zahlung einer jährlichen Pauschale von 30.000 Pfund insgesamt 20 Mio. Pfund Steuern sparte. [3] Legale Steuervermeidungstricks für die reiche Frau des Schatzkanzlers, aber Steuererhöhungen für die gewöhnlichen Steuerpflichtigen - Sunaks Fassade bröckelt seitdem gewaltig. Und das vollkommen zu Recht.

Oder nehmen wir Sunaks gerade geschassten Kabinettskollegen Michael Gove, der in den zurückliegenden Jahren zweimal als Parteivorsitzender und damit faktisch als Premierminister kandidierte. Nach dem Rücktritt von David Cameron im Nachgang des Brexit-Referendums verkündete Gove, nicht als Parteivorsitzender der Tories kandidieren zu wollen, er unterstütze vielmehr Boris Johnson. Doch kurz vor Ablauf der Nominierungsfrist entzog er seinem bis dahin engsten Verbündeten plötzlich und unerwartet die Unterstützung und kandidierte selbst. Niccolò Machiavelli hätte sich köstlich darüber amüsiert. Das Rennen machte dann allerdings Theresa May, Michael Gove landete abgeschlagen auf Platz 3. [4]

Kein Zweifel, der britische Premierminister Boris Johnson ist ein notorischer Lügner, aber sind die anderen wirklich integer? Zweifel daran sind nur allzu berechtigt. Die Demokratien schaffen es unter dem Druck von einflussreichen Interessengruppen nicht, den wachsenden Wohlstand gerechter zu verteilen, tatsächlich vertieft sich die soziale Kluft mehr und mehr, weshalb in vielen Ländern (Frankreich, USA, Großbritannien, Deutschland, Polen, Ungarn etc.) charakterlich höchst fragwürdige Populisten erstarken. Diese gerieren sich zwar gerne als Volkstribune und verdammen Partikularinteressen, während sie in Wahrheit, unterstützt von der Aggressivität in den sozialen Medien und einer verantwortungslosen Boulevard-Presse, nicht selten allein ihren eigensüchtigen Motiven folgen. Auf der Stecke bleiben Anstand, Wahrheit, Vernunft und Gemeinsinn. Das große Plus der Demokratie ist ihre Selbstreinigungskraft - zumindest solange deren demokratischen Mechanismen (Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Beachtung des Geistes und Befolgung des Wortlauts der Verfassung) funktionieren.

Wir, die Wählerinnen und Wähler, müssen endlich lernen, zwischen den selbstherrlichen Schaumschlägern und den wirklich Qualifizierten zu unterscheiden. Das ist nicht leicht, aber mit einer Portion gesunder Skepsis durchaus machbar.

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[1] Die Zeit-Online vom 16.07.2020
[2] Süddeutsche vom 02.04.2022, Printausgabe, Seite 26
[3] Guardian vom 09.04.2022
[4] Wikipedia, Michael Gove