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08. Juli 2022, von Michael Schöfer
Kann Putin siegen?


Was Autokraten wie Wladimir Putin wohl nie verstehen werden: Der Rücktritt des britischen Premierministers Boris Johnson mag chaotisch erscheinen, doch so etwas gehört in einer Demokratie eben dazu. Regierungschefs werden entweder durch die Wählerinnen und Wähler an der Wahlurne oder innerhalb der Legislaturperiode durch die Mehrheit der eigenen Parteigänger abgelöst. Hier wirken also lediglich die Selbstreinigungskräfte der Demokratie. Wenn jemand sein Land nach vorherrschender Ansicht in die falsche Richtung führt, wird dieses Manko durch einen friedlichen Wechsel der Macht korrigiert.

Gewiss, die Vorgänge hierbei sind oft turbulent, aber es wird - im Gegensatz zu Autokratien - keiner der potenziellen Nachfolger auf der Brücke hinterrücks erschossen wie Boris Nemzow und keiner mit Nowitschok vergiftet und anschließend ins Arbeitslager gesteckt wie Alexej Nawalny. Wladimir Putin ist, wenn man seine Zeit als Ministerpräsident mit einbezieht, seit 23 Jahren an der Macht - und ein Ende seiner Herrschaft ist trotz des für Russland fatalen Angriffskriegs in der Ukraine immer noch nicht absehbar. In Diktaturen reißt der Diktator sein Land lieber mit in den Abgrund, als freiwillig den Platz zu räumen. Und die Aussichten für Russland sind wegen den harten westlichen Sanktionen insbesondere im Bereich der Ökonomie mehr als düster.

Dennoch ist es kein Zeichen von Defätismus, wenn man die ungehörig erscheinende Frage stellt: Kann Putin siegen? Genauer: Kann Putin den Westen besiegen? Militärisch und ökonomisch wahrscheinlich nicht, aber es ist keineswegs auszuschließen, dass die rapide fortschreitende innere Erosion des Westens Putin unerwartet doch zum Sieg verhilft. Am 6. Januar 2021 sind die Vereinigten Staaten knapp an einem Putsch des abgewählten Präsidenten Donald Trump vorbeigeschrammt, aber die von ihm ausgelöste tektonische Verschiebung der Machtverhältnisse im Supreme Court verspritzt weiterhin das Gift der Autokratie. Nicht nur George Soros macht sich große Sorgen, vielmehr alle Demokraten der westlichen Welt. [1] Der zivilisatorische Rückschritt, der uns durch die Radikalisierung der Republikanischen Partei droht, ist extrem. Die Grand Old Party, immerhin die Partei Abraham Lincolns ("...und dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von der Erde verschwinden möge"), ist offenbar bereit, den Common Sense über Bord zu werfen und für den eigenen Machterhalt die gesamte Demokratie aufs Spiel zu setzen. Unglaublich. Was hat die Partei da bloß geritten? Manche befürchten sogar, dass das stark polarisierte Land bald in einem Bürgerkrieg versinkt.

Stehen die Republikaner noch auf den in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 niedergelegten Prinzipien? "Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; daß, wenn irgendeine Regierungsform sich für diese Zwecke als schädlich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und sie auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und ihres Glücks geboten zu sein scheint." [2] Die Zweifel daran sind nicht unberechtigt.

Vor diesem Hintergrund noch einmal die keineswegs abwegige Frage: Kann Putin siegen? Leider muss man antworten: Ja, er kann es. Und zwar dann, wenn sich die USA selbst vom Spielfeld nehmen, denn ohne das gewaltige ökonomische und militärische Potenzial der Vereinigten Staaten im Rücken stünde Europa der russischen Aggression allein gegenüber und wäre künftig nahezu hilflos der Willkür der großen Diktatoren (Wladimir Putin, Xi Jinping) ausgeliefert. Europa ist nämlich momentan weder militärisch noch ökonomisch stark genug, ein durch die USA verursachtes Vakuum zu kompensieren. Vom dazu notwendigen Willen ganz zu schweigen. Insofern kommen den midterm elections am 8. November 2022 und der Präsidentschaftswahl am 5. November 2024 immense Bedeutung zu. Die aus heutiger Sicht durchaus mögliche Rückkehr von Donald Trump ins Oval Office würde die Katastrophe vollenden und könnte den Westen von innen heraus zerstören. Zur Erinnerung: Narzissten werden u.a. als rachsüchtig und rücksichtslos beschrieben. Lachender Dritter am Rande: Wladimir Putin.

Die Geschichte zeigt: Weltreiche kommen, Weltreiche vergehen. Und auch die mindestens seit 1492 (Entdeckung Amerikas) bestehende globale Dominanz des Westens könnte irgendwann enden - und mit ihr kollabieren dann die liberale Demokratie, die auf dem Völkerrecht basierende Weltordnung und die universell geltenden Menschenrechte. Wir müssen der großen Gefahr offen ins Auge sehen und dürfen sie keinesfalls verdrängen, denn nur wenn wir ihre verheerenden Folgen kennen, können wir etwas dagegen tun.

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[1] Der Standard vom 06.07.2022