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24. Oktober 2022, von Michael Schöfer
Echte Solidarität muss etwas kosten


Man beklagt sich nicht selten zu Recht über die Placebo-Politik der Regierenden, die offenkundig nach dem Motto handeln: "Seht her, wir tun was!" Oft genug stellt man nämlich später die Wirkungslosigkeit der lautstark angekündigten Maßnahmen fest. Symbolisch in diesem Sinne waren etwa die jüngsten Sanktionen gegen den Iran. Die EU verhängte wegen dem brutalen Vorgehen gegen die Opposition Strafen gegen das Regime in Teheran, u.a. betraf das Angehörige der Sittenpolizei und der Revolutionsgarden, sie unterliegen ab sofort einem Einreiseverbot und ihr Vermögen in der EU wird eingefroren. Das geneigte Publikum dachte vermutlich: "Wow, die tun was. Das trifft die iranischen Unterdrücker hart." Allerdings wurde kaum hinterfragt, wie oft Angehörige der Sittenpolizei und der Revolutionsgarden in die EU einreisen und ob sie hier überhaupt Vermögenswerte besitzen. Beides dürfte die Ausnahme sein, daher entpuppen sich solche EU-Sanktionen als propagandistische Seifenblase. Schön anzusehen, aber völlig nutzlos.

Das Gleiche könnte man von der vielbeschworenen Solidarität behaupten. Als Zeichen des Widerstands gegen das Regime schneiden sich momentan im Iran viele Frauen die Haare ab, das erfordert großen Mut, weil es mit erheblichen Risiken für Leib und Leben verbunden ist. Bewundernswert. Frauen im Westen, wie etwa die französische Schauspielerin Juliette Binoche, reagieren aus Solidarität mit den iranischen Frauen genauso - sie schneiden ihre Haare ab (oder zumindest Teile davon). Auch Kim de l’Horizon entledigte sich bei der Buchpreisverleihung 2022 im Frankfurter Römer als Zeichen der Solidarität mit den protestierenden Frauen im Iran demonstrativ der Haarpracht ("Dieser Preis ist nicht nur für mich"). Eine wunderbare Geste, die allerdings vor allem das eigene Gewissen beruhigt. Man kann sich diese Solidarität hier im Westen gefahrlos leisten.

Echte Solidarität muss etwas kosten. Als vor einigen Jahren der Footballspieler Colin Kaepernick beim Abspielen der US-Nationalhymne niederkniete, kostete ihn das seinen Job. Zudem war er großen Anfeindungen "patriotisch" gesinnter Amerikaner ausgesetzt. Kaepernick zahlte einen konkreten Preis für sein hartnäckiges Eintreten gegen den Rassismus. Solidarität, die nichts kostet und nach deren Bekundung man in die unter Umständen luxuriöse Wohlstandsblase zurückkehrt, hat einen schalen Beigeschmack. Ähnlich geht es momentan den Völkern Europas. Ja, man ist solidarisch mit der von Russland angegriffenen Ukraine, es soll halt bloß nicht allzu viel kosten. Je höher der ökonomische Preis, desto geringer die Solidarität mit dem geschundenen Land. Noch sind die, denen die Sanktionen gegen Russland zu weit gehen, in der Minderheit, aber das könnte sich im nahenden Winter rasch ändern. Auch wenn es entsetzlich kurzsichtig ist, handeln nicht wenige nach dem Motto "Jeder ist sich selbst der Nächste".

Solidarität war einst für unsere Spezies überlebenswichtig, als isoliertes Individuum hätten wir die Gefahren der Wildnis kaum gemeistert. Natürlich galt das anfangs lediglich für die Mitglieder der eigenen, damals recht überschaubaren Gruppe. Leuchtete diese Solidarität ursprünglich noch unmittelbar ein, bedurfte sie in der Massengesellschaft notgedrungen eines ideologischen Überbaus. Was hat der Bayer mit dem Brandenburger gemein? Die Staatsangehörigkeit, das Grundgesetz. International ist das viel weniger plausibel zu erklären. Warum solidarisch sein mit den Ukrainern und den Iranern? Warum selbst einen Preis zahlen, wenn es ihnen an den Kragen geht? Antwort: Aus purem Eigeninteresse, weil es in beiden Fällen um die Verwirklichung der Menschenrechte und die Bewahrung/Erringung der Freiheit geht. Der individuellen und kollektiven Freiheit. Die Erfahrung zeigt, dass das Erstarken von autoritären Systemen uns früher oder später ebenfalls tangiert. Es ist eine Illusion, stets von jeglicher Unbill verschont zu bleiben. Genauso wenig wie sich die Briten 1939 Hitler als Feind herausgesucht haben, haben wir uns 2022 Putin als Gegner gewünscht. Doch Feinde drängen sich ungefragt auf, man kann sie dann nur noch bekämpfen oder vor ihnen kapitulieren. Heute mag der ökonomische Preis der Solidarität hoch erscheinen, doch er ist nichts gegen den Preis, den wir für das Verschwinden der Demokratie zu zahlen hätten.