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03. Dezember 2022, von Michael Schöfer
Im Grunde kennt jeder die Antwort


Ein Mann geht auf einer Schnellbahntrasse entlang, er kann in der Ferne schon deutlich den ihm entgegenrasenden ICE erkennen. Da stellt sich plötzlich eine Frau mit einem Stoppschild in den Weg und ruft: "Geh nicht weiter, verlass sofort die Schienen, sonst wirst du unweigerlich sterben." Weder der Mann noch die rasch herbeigerufene Polizei zeigen dafür Verständnis, die Frau wird verhaftet und wegen Nötigung angeklagt. Dass sie dem Suizidenten mit mahnenden Worten das Leben retten will, wird als verwerfliche Gewaltanwendung ausgelegt. Das ist doch kompletter Irrsinn, werden Sie vielleicht denken, allerdings ist momentan genau das der Stand der Diskussion über die umstrittenen Aktionen der Klimaaktivisten der "Letzten Generation" - sie sind die Frau mit dem Stoppschild, wir (d.h. die Gesellschaft) sind der Mann, der sehenden Auges dem Untergang entgegengeht.

In dieser kontrovers geführten Auseinandersetzung verrutschen schon einmal die Maßstäbe. "Klimaaktivisten im Visier des Geheimdienstes", meldete etwa die Süddeutsche vor kurzem. Die Länder Berlin, Hamburg, Hessen und das Bundesamt für Verfassungsschutz stufen einzelne Protestgruppen als verfassungsfeindlich ein. "Begründung: Sie würden die heutige Form des Kapitalismus als Ursache der Klimazerstörung bezeichnen und dafür plädieren, nicht bloß Reformpakete zu schnüren, sondern an die Wurzel dieses - aus ihrer Sicht - Problems zu gehen." Deren "Klimaschutzpolitik ziele in Wahrheit 'auf eine Kritik des 'Kapitalismus', mit der in der linksextremistischen Ideologie letztlich die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung angestrebt wird'." [1] Für den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz sind die Klimaaktivisten der "Letzten Generation" schlicht "kriminelle Straftäter". [2] Und der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) verkündete auf der jüngsten Innenministerkonferenz in München, "aus Sicht der CDU/CSU-Innenminister sei zu prüfen, inwieweit es sich um eine kriminelle Vereinigung handle". [3] Andere fordern die konsequente Anwendung des Präventivgewahrsams (wie er z.B. in § 17 des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes verankert ist).

Es gibt durchaus Gründe, manche Aktionen der Klimaaktivisten kritisch zu bewerten. Es gibt aber auch Gründe, die Haltung der Verfassungsschutzbehörden zu den Klimaaktivisten zu kritisieren. Nicht zuletzt wegen dem Grundgesetz selbst. Der Kapitalismus wird nämlich in unserer Verfassung mit keinem Wort erwähnt, das Grundgesetz ist gegenüber der Wirtschaftsordnung neutral. In Artikel 20 wird lediglich das nicht näher konkretisierte Sozialstaatsprinzip festgeschrieben. Insofern ist es keineswegs verfassungsfeindlich, Kapitalismuskritik zu üben oder sogar im Interesse der Umwelt dessen Überwindung zu fordern. Das Grundgesetz sagt vielmehr in Artikel 20a: "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung." Wer Kapitalismuskritikern das Etikett der Verfassungsfeindlichkeit anheftet, tut dies folglich in Unkenntnis der Verfassung, weil der Kapitalismus eben nicht mit der Demokratie identisch ist, denn das sind zwei unterschiedliche Paar Stiefel.

Das Bundesverfassungsgericht wiederum hat Anfang 2021 ein wegweisendes Urteil gefällt, das viele offenbar noch nicht ausreichend verinnerlicht haben. Dort heißt es: "Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen. Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität. Art. 20a GG genießt keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen, sondern ist im Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien zu bringen. Dabei nimmt das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu." [4]

Ob die unstreitig lästigen Sitzblockaden der "Letzten Generation" überhaupt verwerflich und damit im Sinne des Strafgesetzbuches strafbar sind, ist obendrein unter Juristen umstritten. Sitzblockaden sind, das hat das Bundesverfassungsgericht höchstrichterlich entschieden, nicht per se als strafbare Nötigung zu werten, sondern unterliegen stets der Abwägung mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit. [5] Sitzblockaden können eine strafbare Nötigung darstellen, doch sie müssen es nicht, es kommt vielmehr immer auf den Einzelfall an.

Wir verehren Mahatma Gandhi und Martin Luther King zu Recht für deren Konzept des gewaltfreien Widerstands, wozu freilich auch Sitzblockaden gehörten. Aber die "Letzte Generation" soll trotzdem eine "kriminelle Vereinigung" sein? Natürlich darf einerseits keiner das Gesetz in die eigenen Hände nehmen, allerdings gehören andererseits bewusste Gesetzesübertretungen untrennbar zum Konzept des gewaltfreien Widerstands dazu. Da prallen zwei gegensätzliche Prinzipien aufeinander: hier der Rechtsstaat mit seinen Gesetzen, dort das durchaus berechtigte Anliegen der Aktivisten.

Dass die Lage, in die sich die Menschheit durch ihr eigenes Handeln gebracht hat, als "prekär" zu bezeichnen eine maßlose Untertreibung ist, werden wohl bloß noch die hartnäckigsten Ignoranten bestreiten. Hierzulande sehen laut Umfrage lediglich 4 Prozent "gar keinen" und 11 Prozent "wenig" Handlungsbedarf beim Klimaschutz. "Sehr großen" Handlungsbedarf sehen hingegen 37 Prozent und "großen" sogar 45 Prozent. [6] Wir haben folglich kein Erkenntnisproblem, wir haben fatalerweise ein Umsetzungsproblem. Und zwar ein massives.

Die globalen CO2-Emissionen haben 2021 erneut ein Rekordhoch erreicht (37,1 Mrd. t), sie haben sich damit seit 1960 (9,4 Mrd. t) nahezu vervierfacht. [7] Und nach einer Prognose der EIA (U.S. Energy Information Administration) werden sie bis zum Jahr 2050 auf rund 42,8 Mrd. t steigen. [8] Der daraus resultierende Klimawandel könnte Milliarden Menschen die Lebensgrundlage entziehen. Ja, Sie haben richtig gelesen: Milliarden.

Ich will die Sitzblockaden der Klimaaktivisten keineswegs verharmlosen, aber sind vor diesem Hintergrund nicht vielmehr die erschreckend hohen Kfz-Zulassungen das eigentliche Verbrechen? (Allerdings nicht im strafrechtlichen Sinne.) Der Pkw-Bestand in Deutschland erreichte am 1. Januar 2022 mit 48,5 Mio. seinen bisherigen Höchststand, deren Anzahl hat sich seit 1960 fast verelffacht. 94,4 Prozent davon werden mit Benzin oder Diesel (also fossil) angetrieben, der Anteil der reinen Elektrofahrzeuge beträgt jämmerliche 1,3 Prozent. Ungeachtet der für alle offenkundigen Klimakrise wiesen in Bezug auf die Anzahl der zugelassenen Pkw die Wohnmobile (+13,7 %) und die SUVs (+12,2 %) die größten Steigerungsraten gegenüber dem Vorjahr aus. [9] Haben die vielen Umweltkonferenzen im konkreten Handeln der Menschen wirklich keinen Niederschlag gefunden? Über die Klimaaktivisten regt sich jedenfalls ganz Deutschland auf, die weiter wachsenden CO2-Emissionen des Verkehrsbereichs werden dagegen gleichmütig mit einem Achselzucken quittiert.

Nehmen wir einmal an, die Menschheit stirbt tatsächlich aus und künftige Historiker, woher auch immer sie kommen mögen, blicken auf die Endzeit des Anthropozäns [10] zurück: Würden sie sich mehr über die gewaltfreien Klimaaktivisten der "Letzten Generation" oder über die faktisch unzureichenden Entscheidungen der Politiker echauffieren? Die Klimaaktivisten fordern u.a. die Einführung eines Tempolimits, dem gegenüber stehen die durch die Klimakrise verursachten gravierenden Probleme. Wem würden künftige Historiker wohl zuneigen? Und wen würden sie nachträglich verurteilen? Im Grunde kennt jeder die Antwort - auch Friedrich Merz und Peter Beuth.

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[1] Süddeutsche vom 22.11.2022
[2] FAZ vom 26.11.2022
[3] BR vom 02.12.2022
[4] Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021, 1 BvR 2656/18
[5] Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 07. März 2011, 1 BvR 388/05
[6] Infratest-dimap, ARD-Deutschlandtrend Dezember 2022
[7] Statista, CO2-Emissionen weltweit in den Jahren 1960 bis 2021
[8] Statista, Prognose zu den energiebedingten Kohlendioxid-Emissionen weltweit in den Jahren 2020 bis 2050
[9] Kraftfahrtbundesamt, Jahresbilanz 2022
[10] Bundeszentrale für politische Bildung, "Der Begriff 'Anthropozän' bezeichnet ein neues geologisches Zeitalter, in dem die Menschheit den dominanten geophysikalischen Einfluss auf das Erdsystem hat und daraus die Verantwortung des Menschen für die Zukunft des Planeten abgeleitet wird."