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26. Dezember 2022, von Michael Schöfer
Schubladendenken


Menschen stecken andere Menschen gerne in Schubladen - und darin stecken diese dann fest. Klopf, klopf, ich will da raus! Leider keine Chance, ist der Mensch erst einmal irgendwo einsortiert worden, kommt er dort nur noch in Ausnahmefällen wieder heraus. Bei Völkern wird es erfahrungsgemäß ganz schwierig: Festgefügte Vorstellungen über kollektive Eigenschaften, die die individuellen Wesenszüge der Menschen überlagern, sind nach wie vor Grundlage für zahlreiche Vorurteile. Kontraproduktiv ist natürlich, wenn solche Klischees durch bestimmte Ereignisse dann auch noch bestätigt werden: Haben wir es nicht schon immer gesagt? Russlands Krieg in der Ukraine ist hierfür das beste Beispiel.

Wladimir Putin tut nämlich alles dafür, das Klischee des primitiven, despotischen und grausamen Russen zu bestätigen. Überall in Westeuropa stellt man sich deshalb die Frage: Soll man noch Werke russischer Komponisten aufführen? Soll man russische Literatur aus den Buchläden verbannen? Zurückgefragt: Was haben Tschaikowski, Tolstoi und Dostojewski mit dem totalitären System von Wladimir Putin zu tun? Sie sind zwar fester Bestandteil der russischen Kultur, doch sind sie auch für die Kriegsverbrechen des aktuellen Kremlherrschers verantwortlich? Meiner Meinung nach nicht.

Gerade wir Deutschen kennen diesen Zwiespalt nur allzu gut. Als das Land der "Dichter und Denker" (was es genau besehen nie war, weil Deutschland seine Dichter und Denker oft verfemte) in den tiefsten denkbaren menschlichen Abgrund stürzte, überlagerten diese unsäglichen Verbrechen alles andere. Spätestens nach 1945 fragten andernorts viele: Soll man noch Beethoven spielen, kann man noch Goethe lesen oder Schillers Stücke aufführen? Selbst die deutsche Sprache war nicht überall willkommen.

Einerseits emotional verständlich, andererseits rational nicht nachzuvollziehen, denn was hatte Beethoven mit Hitler zu tun? Nichts. Wie dem auch sei, jedenfalls machten Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg im Ausland nicht selten die Erfahrung, dass sie in erster Linie als Deutsche und weniger als Individuen gesehen wurden. Mir erging es 1989 als jungem Mann bei einem Israel-Besuch genauso. Gelegentlich spürte ich dort eine Ablehnung, die aus meiner Herkunft resultierte, was rational betrachtet absurd war, schließlich gehörte ich damals der SPD an (schon mein Großvater väterlicherseits war Sozialdemokrat). Emotional konnte ich das freilich verstehen, getroffen hat es mich trotzdem.

Erbarmungslos schlug das Schubladendenken zu: Als Deutscher wurde einem insgeheim unterstellt, ein Nazi zu sein. Man war kein Individuum, das bestimmte Charaktereigenschaften und Überzeugungen hatte, sondern lediglich ein "Deutscher", was sogar lange nach dem Krieg noch ein Synonym für die schlimmsten Eigenschaften war. Genau so geht es heutzutage den Russen. Sie werden nicht als Individuen mit bestimmten Charaktereigenschaften und Überzeugungen betrachtet, sondern bloß als "Russen", was momentan ebenfalls ein Synonym für die schlimmsten Eigenschaften ist. Wladimir Putin sei Dank.

Die Westdeutschen hatten Glück, der Kalte Krieg begünstigte ihre Rehabilitierung und half bei der raschen Wiederaufnahme der Bundesrepublik in die westliche (demokratische) Völkergemeinschaft. Bei Russland wird das, so fürchte ich, ungleich länger dauern. Putins Propaganda wirkt und sitzt tief. Auch, weil sich Russland bereits unter den Zaren missverstanden und ausgestoßen fühlte, insofern gibt es dort eine gewisse Kontinuität des historischen Empfindens. Nicht zuletzt, weil die Erfahrungen in der kurzen Phase des demokratischen Tauwetters unter Boris Jelzin keineswegs die besten waren. Stichwort: neoliberale Schocktherapie.

Deutschland kapitulierte 1945 und wurde von den Siegermächten vollständig besetzt, das wird bei Russland nach dem Ende des Ukrainekriegs sicherlich anders sein. Während Deutschland die Demokratie von den Westalliierten neu erlernte, kann man sich die Verhältnisse nach einem möglichen Sturz des Putin-Regimes derzeit kaum vorstellen. Eines scheint festzustehen: Gibt es keinen grundlegenden Wandel innerhalb Russlands, wird das Land auf lange Zeit ausgeschlossen bleiben - politisch, kulturell und ökonomisch. Es wird dann sozusagen fest in einer Schublade stecken. Ganz fest.