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30. Dezember 2022, von Michael Schöfer
Ein merkwürdig gespaltenes Land


Man fragt sich immer öfter: Leben wir wirklich in einem der reichsten Länder der Erde? Die Zweifel daran wachsen: Die Realeinkommen sind aufgrund der hohen Inflation stark gesunken und wegen des Wohnraummangels explodieren seit langem die Mieten. Die Infrastruktur ist marode, die Bundeswehr schrecklich verlottert, die Bundesbahn immer unzuverlässiger, das Personal in den Pflegeberufen überlastet, die Digitalisierung der Verwaltung ein Trauerspiel, der Zustand der Schulen beklagenswert, die Tafeln verzeichnen ein starkes Ansteigen der "Kundschaft" und auf die Kliniken rollt eine Insolvenzwelle zu. Wurde etwas vergessen? Es ist erstaunlich, dass viele, bis weit in die Mittelschicht hinein, schon allein durch höhere Energiepreise in Existenznot geraten. Und das wohlgemerkt in einem der reichsten Länder der Erde. Wo ist denn das viele Geld, das unsere Volkswirtschaft in den letzten Jahrzehnten verdient hat, geblieben?

Aber es gibt ja noch das andere, das wirklich wohlhabende Deutschland: Susanne Klatten und ihr Bruder Stefan Quandt besitzen knapp 47 Prozent des Autobauers BMW, ihr ohnehin gewaltiges Vermögen von ungefähr 33 Mrd. Euro ist deshalb 2021 allein aufgrund der gezahlten BMW-Dividende um 1,6 Mrd. Euro gewachsen. [1] Sitzt Frau Klatten derzeit auch zu Hause bibbernd in der Fleecejacke in der Wohnstube und spart Energie? Empfängt viele Einkommensklassen darunter Baden-Württembergs Landwirtschaftsminister Peter Hauk, der 15 Grad in der Wohnung für durchaus zumutbar hält, seine Gäste im heimischen Adelsheim tatsächlich im Pullover? Daran wird doch hoffentlich keiner zweifeln. Und alle tun das selbstverständlich nur aus Solidarität mit den armen Rentnern, die die Qual der Wahl haben: Essen oder heizen?

Ein merkwürdig gespaltenes Land, das trotz allem einen Spitzensteuersatz wie zu Helmut Kohls Zeiten (56 Prozent) mit der Einführung des Sozialismus verwechselt und sich hartnäckig weigert, eine Vermögensteuer zu erheben. Neuerdings buhlen sogar die reichen Erben um Mitleid, die etwa in München ein Haus in bester Lage aufgezwungen bekommen. Man sollte die Wohnungslosen fragen (nach Angaben der Stadt München zuletzt knapp 8.900), ob sie vielleicht tauschen und den Erben die große Bürde der Erbschaft abnehmen wollen. Bloß um zu vermeiden, dass unserem Land nachgesagt wird, es kümmere sich nicht ausreichend um die Probleme der Oberschicht.

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[1] Manager-Magazin vom 22.10.2022