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31. Dezember 2022, von Michael Schöfer
Es ist echt zum Haareraufen

Diese Heuchelei ist unerträglich. Und die Politik braucht sich wahrlich nicht über die um sich greifende Politikverdrossenheit zu wundern. Was ist passiert? Die Bundesregierung hat im Herbst eine sogenannte "Inflationsausgleichsprämie" beschlossen, Arbeitgeber können ihren Beschäftigten 3.000 Euro steuer- und sozialabgabenfrei aufs Konto überweisen. [1] Bundestag und Bundesrat haben zugestimmt. Die Inflationsausgleichsprämie muss zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn gewährt werden. [2] In Gesprächen mit Vorstandsvorsitzenden ermunterte Bundeskanzler Olaf Scholz die Unternehmen dazu, diese Möglichkeit auch zu nutzen, denn "so können reale Einkommensverluste, die den Beschäftigten durch die hohe Inflation entstehen, kompensiert werden." [3] So weit, so gut.

Es ist immer leicht, etwas zu beschließen, das andere zahlen sollen. Ob auch die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes die Inflationsausgleichsprämie bekommen werden, war von Anfang an fraglich, die Politik zeigt sich nämlich in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber erfahrungsgemäß weit weniger spendabel. Und tatsächlich: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat soeben die Zahlung der Prämie für die Beschäftigten des Landes abgelehnt. [4] Obgleich das Gesetz verlangt, dass sie zusätzlich zum Arbeitslohn gewährt werden muss, meint Kretschmann: "So was gehört in Tarifrunden. Da werden wir jetzt nicht als einziges Land ausscheren. Das wäre höchst illoyal anderen Ländern gegenüber." Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Da beschließt Ministerpräsident Kretschmann am 7. Oktober im Bundesrat in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber ein Gesetz, dessen Ausführung er Ende Dezember in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber der Landesbeschäftigten ablehnt. Hier tritt abermals die übliche politische Schizophrenie zutage.

Es wird wieder einmal am falschen Ende gespart. Dem öffentlichen Dienst fehlt Personal, bei vielen Dienstleistungen gibt es deshalb lange Wartezeiten. Beispiel Ordnungsamt Stuttgart: Die Bürgerbüros sind überlastet, es bilden sich lange Warteschlangen mit Wartezeiten von bis zu fünf Stunden für eine Ummeldung oder das Beantragen eines Personalausweises. Grund laut Ordnungsamtsleiterin Dorothea Koller ist der Personalmangel, denn Mitte 2022 waren ein Viertel der Stellen unbesetzt. [5] Folge: Die Beschäftigten sind überlastet und klagen über Burnout, die Bürgerinnen und Bürger wiederum total genervt. Beides ist verständlich.

Stuttgart ist beileibe kein Einzelfall: "Die Personalsituation in Ausländerbehörden in Baden-Württemberg bewerten laut Umfrage 94 Prozent der Behördenleiterinnen und Behördenleiter als mindestens 'angespannt', aber in der Mehrheit als 'sehr angespannt'. Die Hauptgründe: zu wenig geeignete Bewerberinnen und Bewerber einerseits, zu wenig vorgesehene Planstellen andererseits. Aber auch zu geringe Bezahlung, ein hoher Krankenstand von Mitarbeitenden und fehlende Räumlichkeiten werden als Gründe genannt." [6] Der Fachkräftemangel ist keineswegs auf die Kommunen begrenzt, sondern in Bund, Ländern und Gemeinden gleichermaßen spürbar. Wenig verwunderlich, denn wer geht schon gerne zu einem Arbeitgeber, der seine Beschäftigten - siehe oben bei Kretschmann - so schofel behandelt?

Diese Situation wird sich, wenn die öffentlichen Arbeitgeber nicht sofort reagieren, in Zukunft noch verschärfen, weil in den nächsten 20 Jahren die Hälfte der Beschäftigten in den Ruhestand geht. Der öffentliche Dienst ist wegen den Personalreduzierungen der letzten Jahrzehnte ausgezehrt und überaltert.

[Quelle: Demografieportal, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, CC BY-ND 4.0]

[Quelle: Demografieportal, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, CC BY-ND 4.0]

Außerdem steigt die Arbeitsbelastung, während die versprochene Digitalisierung weiterhin auf sich warten lässt. Wohngeldreform, ick hör dir trapsen. [7] Im Konkurrenzkampf um die guten Kräfte gilt: "Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren." (Bertolt Brecht) Erfolgreich kämpfen kann der öffentliche Dienst aber nur mit besseren Arbeitsbedingungen und höherer Entlohnung. Gewiss, in Sonntagsreden beklagen inzwischen selbst Politiker den grassierenden Fachkräftemangel. Doch hier ist es wie etwa bei der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum: Es wird viel geredet, aber kaum gehandelt. Und Kretschmann ist diesbezüglich keinen Deut besser als die anderen. Es ist echt zum Haareraufen.

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[1] Bundesregierung vom 01.11.2022
[2] siehe Bundesgesetzblatt, Gesetz zur temporären Senkung des Umsatzsteuersatzes auf Gaslieferungen über das Erdgasnetz vom 19.10.2022, Artikel 2, PDF-Datei mit 39 KB
[3] Bundesregierung vom 02.12.2022
[4] swr.de vom 31.12.2022
[5] swr.de vom 13.06.2022 oder swr.de, Zur Sache Baden-Württemberg vom 17.11.2022, Kommunen vor dem Kollaps?, Video in der Mediathek (verfügbar bis 17.11.2023, 20:15 Uhr)
[6] swr.de vom 25.08.2022
[7] tagesschau.de vom 30.12.2022