Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



01. Januar 2023, von Michael Schöfer
Die regelbasierte internationale Ordnung muss für alle gelten


Wenn Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zum Angriffskrieg Russlands und der illegalen Annexion ukrainischer Gebiete Stellung bezieht, verteidigt sie stets die "regelbasierte internationale Ordnung". Baerbock befindet sich damit im Einklang mit dem Völkerrecht und den Zielen der Charta der Vereinten Nationen. Gut so! Allerdings sollte die regelbasierte internationale Ordnung für alle gelten, also auch für den Westen selbst, doch genau daran hapert es mitunter gewaltig.

Das hat sich etwa am vorletzten Tag des vergangenen Jahres gezeigt, als die UN-Vollversammlung den Internationalen Gerichtshof damit beauftragte, "die israelische Besetzung der Palästinensischen Gebiete zu prüfen. Die mit 87 zu 26 Stimmen verabschiedete Resolution ersucht das Gericht in Den Haag, die 'rechtlichen Konsequenzen' zu ermitteln, die sich 'aus der fortwährenden Verletzung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung' ergäben. (…) Israels Botschafter Gilad Erdan nannte die Resolution vor der Abstimmung 'einen moralischen Fleck auf der Uno'. Kein internationales Gremium könne 'entscheiden, dass das jüdische Volk Besatzer in seiner eigenen Heimat ist'." [1] Unter anderem die USA, Großbritannien und Deutschland stimmten dagegen. Warum eigentlich?

Die israelische Siedlungspolitik und die seit 1967 andauernde Besetzung der palästinensischen Gebiete sind zweifellos völkerrechtswidrig, das haben die Vereinten Nationen mehrfach in Resolutionen zum Ausdruck gebracht.

Die Genfer Konvention vom 12. August 1949 sagt in Artikel 49 unmissverständlich: "Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln." [2] "Zwangsweise Einzel- oder Massenumsiedlungen" sind ebenfalls verboten. Und: "Es ist der Besetzungsmacht verboten, bewegliche oder unbewegliche Güter zu zerstören, die persönliches oder gemeinschaftliches Eigentum von Privatpersonen, Eigentum des Staates oder öffentlicher Körperschaften, sozialer oder genossenschaftlicher Organisationen sind, ausser in Fällen, wo solche Zerstörungen wegen militärischer Operationen unerlässlich werden sollten." (Art. 53) [3] Palästinenser zu vertreiben, ihre Grundstücke zu enteignen sowie Häuser abzureißen, um darauf jüdische Siedlungen zu errichten, verstößt demzufolge gegen das Völkerrecht.

Die Charta der Vereinten Nationen untersagt in Artikel 2 die "Androhung oder Anwendung von Gewalt", die sich "gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates" richtet. Diesen Grundsatz ("Unzulässigkeit des Gebietserwerbs durch Krieg") hat der UN-Sicherheitsrat mit Blick auf die von Israel besetzen Gebiete bereits wenige Monate nach dem Sechstagekrieg in der Resolution 242 vom 22. November 1967 bekräftigt. Die israelischen Streitkräfte wurden zum Rückzug aus den besetzen Gebieten aufgefordert. [4] Auch in der UN-Resolution 476 vom 30. Juni 1980 wurde Israel aufgefordert, die Besetzung der 1967 eroberten arabischen Gebiete zu beenden. [5] In der UN-Resolution 478 vom 20. August 1980 wurde die Annexion Ost-Jerusalems durch Israel für nichtig erklärt. [6] Und die UN-Resolution 497 vom 17. Dezember 1981 erklärte die Annexion der Golanhöhen für "null und nichtig". [7]

Im Koalitionsvertrag der neuen ultrarechten Regierung in Israel steht: "Die israelische Nation hat ein natürliches Recht auf das Land Israel. Im Lichte des Glaubens an das vorgenannte Recht wird der Regierungschef politische Richtlinien formulieren und durchsetzen, in deren Rahmen die Hoheit auf Judäa und Samaria ausgeweitet werden wird." [8] Mit "Judäa und Samaria" ist das Westjordanland gemeint. Das ist nicht nur ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht, sondern auch ein eklatanter Angriff auf die "regelbasierte internationale Ordnung", die Außenministerin Baerbock so gerne verteidigt. Es steht Israel nicht zu, die territoriale Ausdehnung der "Heimat des jüdischen Volkes" kraft eigener Willkür zu definieren.

Doch warum stimmt Deutschland dann in der UN-Vollversammlung gegen den Prüfauftrag an den Internationalen Gerichtshof? Unverständlich. Das Völkerrecht sollte ausnahmslos für alle gelten, also auch für den Westen und Israel. Nach 9/11 hat uns die Missachtung des Völkerrechts durch die "westliche Wertegemeinschaft" erheblich geschadet, die selbsternannten Hüter der "regelbasierten internationalen Ordnung" haben nämlich nicht unwesentlich zu ihrer Erosion beigetragen (CIA-Foltergefängnisse, Irakkrieg, Drohnenkrieg, Guantanamo etc.). Haben wir daraus wirklich nichts gelernt? Putin wird zu Recht für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die dort begangenen Kriegsverbrechen verurteilt. Aber werden wir nicht unglaubwürdig, wenn wir an Israel (oder irgendeinen anderen Staat) eine andere Messlatte anlegen? Gleiches Recht für alle! Nicht nur die Ukrainer haben unveräußerliche Menschenrechte, sondern ebenso die Palästinenser.

"Jeder Mensch hat Anspruch auf bestimmte angeborene Rechte und Freiheiten. Menschenrechte sind universell, gelten also überall und für alle Menschen. Sie sind unveräußerlich, können also nicht freiwillig aufgegeben oder abgetreten werden. Und sie sind unteilbar, man kann also nicht ein Recht auf Kosten eines anderen verwirklichen. Menschenrechte sind in zahlreichen völkerrechtlichen Vereinbarungen festgeschrieben", erklärt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). [9] Und das Auswärtige Amt bekräftigt: "Sich für Menschenrechte einzusetzen, ist aber nicht nur eine moralische und völkerrechtliche Verpflichtung aus dem Grundgesetz. Die Wahrung von Menschenrechten liegt auch im außenpolitischen Interesse Deutschlands. Beispiele auf der ganzen Welt zeigen: Wo Menschenrechte verletzt werden, kann es langfristig keinen Frieden und keine stabile Entwicklung geben." [10] Hehre Worte, man müsste jetzt bloß noch danach handeln. Und zwar auch dann, wenn es wie mit dem Blick auf Israel unbequem ist.

----------

[1] Der Standard vom 31.12.2022
[2] Schweizerische Eidgenossenschaft, Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, Artikel 49
[3] Schweizerische Eidgenossenschaft, Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, Artikel 53
[4] Wikipedia, Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates
[5] Wikipedia, Resolution 476 des UN-Sicherheitsrates
[6] Wikipedia, Resolution 478 des UN-Sicherheitsrates
[7] Wikipedia, Resolution 497 des UN-Sicherheitsrates
[8] nd vom 29.12.2022
[9] BMZ, Menschenrechte
[10] Auswärtiges Amt, Menschenrechte: Fundament deutscher Außenpolitik