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02. Januar 2023, von Michael Schöfer
Noch ziemlich viel Gehirnschmalz notwendig

Die meisten Kriege enden mir irgendeiner diplomatischen Vereinbarung - es sei denn, eine Seite muss aufgrund der prekären militärischen Situation bedingungslos kapitulieren, wie es 1945 beim Dritten Reich der Fall war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Nachkriegsordnung vergleichsweise einfach, sie wurde den Deutschen kurzerhand von den Siegermächten oktroyiert. Das dürfte im Falle Russlands nahezu ausgeschlossen sein, denn niemand will ernsthaft Sankt Petersburg oder Moskau besetzen, das wäre bei einer Atommacht auch ein Spiel mit dem nuklearen Feuer.

Die Vorhersagen, Russland werde demnächst die Munition für die Angriffe auf die Ukraine ausgehen, haben sich bislang leider nicht bewahrheitet. War das bloß Wunschdenken oder eine falsche Analyse der realen Lage? Noch kann Putin bequem von fernen Luftwaffenstützpunkten aus die zivile Infrastruktur des Nachbarlandes zerstören, Vergeltung muss er vorerst keine befürchten, dafür ist die Ukraine, abgesehen von vereinzelten Drohnenangriffen, noch nicht gut genug ausgerüstet. Auch wenn es ungerecht erscheinen mag: Kiew werden bislang keine weitreichenden Waffen geliefert, weil der Westen die Eskalation scheut und den immer wieder angedrohten Nuklearwaffeneinsatz fürchtet. Die Situation würde sich zweifellos dramatisch verschärfen, sollte die Ukraine imstande sein, die russische Energieversorgung oder weit im Landesinneren liegende Militärstützpunkte genauso wirkungsvoll anzugreifen, wie es umgekehrt derzeit die Russen tun.

Der Krieg ist mittlerweile zum Abnutzungskrieg mutiert. Man muss abwarten, wem dabei zuerst die Luft ausgeht. Deswegen darf der Westen bei der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine keinesfalls nachlassen. Und er muss hoffen, dass die Sanktionen Russland allmählich in die Knie zwingen. Bleibt der Westen standhaft, hat Russland gegen die geballte ökonomische Potenz der Demokratien eigentlich keine Chance. Ob seiner Armee tatsächlich aufgrund des mangelnden Nachschubs von Bauteilen die Munition ausgeht, wird sich dann zeigen.

Abgesehen von der juristischen Aufarbeitung der Kriegsverbrechen ist das größte Hindernis einer diplomatischen Lösung der totale Vertrauensverlust in Putins Regime. Wladimir Putin hat mit seinem Angriffskrieg alle völkerrechtlichen Vereinbarungen gebrochen, beispielsweise das Budapester Memorandum aus dem Jahr 1994. Darin wurde der Ukraine seitens Russlands die territoriale Integrität garantiert und mit Verweis auf die Charta der Vereinten Nationen das Gewaltverbot bekräftigt. Im Gegenzug verzichtete die Ukraine damals auf die von der Sowjetunion geerbten Nuklearwaffen und übergab diese an Moskau. Wolodymyr Selenskyj dürfte wohl mehr als einmal gedacht haben: Mit dem ukrainischen Besitz von Atomwaffen wäre das nicht passiert. Und dieser Gedanke ist zumindest nicht vollkommen unplausibel, obwohl Konflikte zwischen Atomwaffenstaaten wiederum ganz speziellen Gesetzen unterliegen (nukleare Abschreckung durch Zweitschlagsfähigkeit und mutually assured destruction, glaubwürdige Bereitschaft zum Armageddon-Befehl).

Wie dem auch sei, jede Nachkriegsvereinbarung steht unter dem Damoklesschwert eines künftigen Vertragsbruchs durch Russland. Die Kardinalfrage ist: Kann man Putin je wieder vertrauen? Hier gilt: "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht…" Doch ohne wenigstens ein Quäntchen Vertrauen kann man schlecht Frieden schließen. Wie könnten Sicherheitsgarantien für die Ukraine aussehen, die mehr Wirksamkeit entfalten als das letztlich völlig nutzlose Budapester Memorandum? Im Grunde kann das nur ein militärisches Beistandsversprechen westlicher Staaten sein, das von seiner Substanz her der Aufnahme in die Nato gleichkommt. Natürlich folgt dem unausweichlich die mit großer Tragweite verbundene Frage: Ist die Bevölkerung in den Demokratien bereit, die Ukraine mit allen daraus resultierenden Konsequenzen für uns selbst zu verteidigen? Bei Ländern, die aus Angst vor einer Eskalation Kiew noch nicht einmal Kampfpanzer liefern, steht da ein ganz großes Fragezeichen.

Die Situation ist ebenso neu wie unerquicklich: Russland, eine mit Nuklearwaffen bestückte totalitäre Diktatur, die erwiesenermaßen nicht vor der Anwendung von Gewalt zurückschreckt, dabei schier unfassbare Kriegsverbrechen begeht, der Welt ständig die krassesten Lügen auftischt, bis zum jetzigen Zeitpunkt keinen Deut von seinen unannehmbaren Maximalforderungen abweicht und obendrein zahlreiche Verträge gebrochen hat, muss erfolgreich in ein für die Ukraine akzeptables Vertragswerk eingebunden werden, das auch noch möglichst dauerhaft Bestand haben soll. Das klingt wie eine diplomatische Quadratur des Kreises. Mir fehlt momentan jegliche Phantasie, wie das gelingen könnte. Und selbst wenn Putin stürzt, ist keineswegs ausgemacht, dass etwas Besseres nachkommt. Es beschleicht einen das ungute Gefühl, als hätte sich dort in den letzten Jahren nicht das Coronavirus, sondern ein irrsinnig machender Krankheitserreger verbreitet. Die Lage könnte also kaum verzwickter sein. Da müssen unsere Politiker und Diplomaten noch ziemlich viel Gehirnschmalz in eine gangbare Lösung investieren.