Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



04. Januar 2023, von Michael Schöfer
Wir Europäer müssen uns besinnen


Das Problem ist nicht, dass der Republikaner Kevin McCarthy, nach allem, was man so liest, ein furchtbarer Opportunist ist. Sein Parteifreund Mitch McConnell kann das erwiesenermaßen noch viel, viel besser. Das Problem ist ebenso wenig, dass seine Wahl zum Sprecher des US-Repräsentantenhauses bislang an ein paar Abgeordneten vom äußersten rechten Rand scheiterte. Das eigentliche Problem ist, dass die altehrwürdige Grand Old Party, die Partei Abraham Lincolns ("...dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von der Erde verschwinden möge."), offenbar tatsächlich bereit ist, aus parteipolitischem Egoismus heraus die amerikanische Demokratie zu zerstören. Wenn sogar Donald Trump keinen Einfluss mehr auf die Geister, die er rief, hat, müssten eigentlich alle Alarmsirenen heulen. Sie heulen auch, bislang allerdings vergeblich.

Es gäbe eine Alternative: Der Demokrat Hakeem Jeffries bräuchte lediglich sechs Stimmen aus den Reihen der Republikaner, um wider Erwarten zum Speaker gewählt zu werden. Motto: Besser im House einen von der Minderheit wählen, als noch länger das destruktive Chaos in der eigenen Partei hinnehmen. Doch Pustekuchen! Ein Armutszeugnis, dass keiner der 222 Republikaner im Interesse des Gemeinwesens bereit ist, mithilfe einer parteiübergreifenden Stimmabgabe die Demokratie zu retten. Es ist bezeichnend: Eine Frau, Liz Cheney, hatte unter den Republikanern - Verzeihung - die größten Eier, sie wurde bekanntlich vor kurzem geschasst.

Wie ist es nur so weit gekommen? Was hat das amerikanische Volk, was hat die politische Elite so entzweit? Die soziale Verwahrlosung nimmt schier unaufhaltsam zu. Während es in Los Angeles mehr als 40.000 Obdachlose gibt [1], gönnt sich Amazon-Gründer Jeff Bezos für seine 127 Meter lange und 500 Mio. Dollar teure Mega-Yacht eine 75 Meter lange und 75 Mio. Dollar teure Begleit-Yacht. [2] Ein sündhaft teures Beiboot also. Das ist selbst für die völlig überzogenen Maßstäbe von Posern nur noch als vollkommen irre zu bezeichnen, Sie dürfen es gerne auch "dekadent" nennen. Was ist bloß los mit dem Homo sapiens? Lust auf Untergang? Es scheint so. Man sieht dem Schauspiel fassungslos zu.

Wir Europäer müssen uns besinnen, denn auf die USA kann man sich nicht mehr verlassen. Der letzte amerikanische Transatlantiker, Joe Biden, wird nicht ewig regieren. Europa muss sich zumindest selbst - d.h. notfalls ohne die Vereinigten Staaten - gegen jede Aggression verteidigen können, woher sie auch kommen mag. Aber das geht nur gemeinsam, dafür müssen nationale Egoismen endlich überwunden werden. Ökonomisch sind wir top - sofern wir das wirklich wollen. Es liegt an uns, ob wir und unsere Werte in diesem globalen Dschungel überleben oder untergehen.

----------

[1] stern.de vom 13.12.2022
[2] heise.de vom 04.01.2023