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07. Januar 2023, von Michael Schöfer
Die Potemkinsche Armee


Der russische Fürst Gregor Alexandrowitsch Potemkin soll der - wahrscheinlich falschen - Legende zufolge 1787 mit Kulissen-Dörfern Kaiserin Katharina die Große über den wahren Entwicklungsstand neu besiedelter Gebiete getäuscht haben. Obgleich Historiker eine Täuschung verneinen, hat sich die Legende bis heute erhalten und ist sogar in den allgemeinen Sprachgebrauch vieler Völker übernommen worden. Die "Potemkinschen Dörfer" gelten seitdem als Synonym für eine mehr oder minder geschickt gemachte, aber tatsächlich inexistente oder zumindest schamlos übertriebene Sache.

Insofern ist die russische Armee in gewissem Sinne eine Potemkinsche Armee - und das gleich doppelt, weil sich nicht nur der Westen über deren wahre Stärke täuschen ließ, sondern kurioserweise auch die russische Führung. Ganz so, als hätte sich Fürst Gregor Alexandrowitsch Potemkin durch die von ihm aufgestellten Kulissen selbst täuschen lassen und sei über die Dörfer genauso begeistert gewesen wie Katharina. Die militärisch durchaus professionelle Einnahme der Krim im Jahr 2014 und der praktisch aus dem Stand heraus ausgeführte Truppeneinsatz in Kasachstan Anfang 2022 haben bei westlichen Politikern und Journalisten den Ruf der gefürchteten russischen Armee scheinbar bestätigt. Und nicht nur bei ihnen: Wladimir Putin hat wohl wirklich daran geglaubt, die Ukraine in drei Tagen besiegen zu können.

Haben sich alle über den desolaten Zustand der russischen Armee täuschen lassen, wussten nicht einmal Militärexperten Bescheid? Weder westliche noch russische? Zur Erinnerung: Im Westen vertrat man im Februar 2022 unisono die Meinung, die Ukraine habe gegen Russland keine Chance. Die Hoffnung, Putin möge sich dort eine blutige Nase holen, wurde zwar als wünschenswert bezeichnet, indes als extrem unrealistisch abgetan. Alle, nicht zuletzt Putins Nase, wurden eines Besseren belehrt.

Gewiss, die ukrainische Armee ist hochmotiviert und überraschend widerstandsfähig, doch heute sieht man ein bisschen klarer: Mit dem von Russland aufgefahrenen alten, überwiegend noch aus Sowjetzeiten stammenden Schrott wäre Putins Armee vermutlich ohnehin nicht allzu weit gekommen, westlichen Waffensystemen ist sie offenbar deutlich unterlegen. Russische Kampfpanzer? Leicht zu knacken! Russische Luftüberlegenheit? Nicht vorhanden! Russische Artillerie? Nicht weitreichend und präzise genug! Russische Logistik? Eine einzige Katastrophe! Lediglich die zahlenmäßige Überlegenheit an Mensch und Material brachte der russischen Armee zumindest kurz nach Kriegsbeginn Erfolge, die aber inzwischen zu einem Gutteil wieder dahin sind.

Die demonstrative Indienststellung der Hyperschall-Seerakete Zirkon auf der "Admiral Gorschkow" und Putins Versprechen, die russischen Streitkräfte schleunigst mit den "modernsten Waffen" auszurüsten, erinnert mittlerweile eher an Fürst Gregor Alexandrowitsch Potemkin als an eine reale Bedrohung. Wer sich im Iran mit billigen, aber vergleichsweise technisch primitiven Drohnen (Shahed 136) versorgt, dem dürften die Kapazitäten zum Bau hochkomplexer Waffensysteme abhanden gekommen sein. Eventuell eine Folge der westlichen Sanktionen. Wie viele moderne Raketen und Marschflugkörper noch in den russischen Arsenalen liegen, ist ungewiss. Ebenso die Fähigkeit der russischen Rüstungsindustrie, in ausreichendem Maße (quantitativ wie qualitativ) Nachschub zu produzieren.

Vor diesem Hintergrund stellt sich unweigerlich die Frage: Müssen wir wirklich wesentlich mehr Geld in unsere Armeen stecken? Natürlich sollte die Bundeswehr zur Landesverteidigung imstande sein, was sie allem Anschein nach derzeit nicht ist. So gesehen werden die 100 Milliarden Sondervermögen zum Stopfen der größten Löcher zweifelsohne dringend benötigt. Doch rein von der Höhe der Verteidigungsausgaben her müsste sie eigentlich ganz passabel dastehen. Deutschlands Militärausgaben betrugen dem Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) zufolge 2021 56,0 Mrd. US-Dollar, das ist fast genau so viel wie die Atommacht Frankreich ausgibt (56,6 Mrd. $). [1] Wenn man sich allerdings ansieht, was dabei herauskommt, steht man vor einem Rätsel: Wo ist denn das viele Geld geblieben?

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg brachte es wie so oft auf den Punkt: "Die USA haben sehr viele Kampfpanzer und einen Typ. Die Europäer haben ziemlich wenige Kampfpanzer und neun verschiedene Typen. Was wir als Nato und EU verhindern müssen, ist Konkurrenz." [2] Das ist ein Plädoyer für mehr Effizienz, sprich für eine einheitliche europäische Rüstungsindustrie, anstatt nebeneinander viele nationale Rüstungsindustrien mit ihren unterschiedlichen Produkten am Leben zu erhalten. Doch damit, jeweils die nationalen Egoismen abzubauen, tun sich alle furchtbar schwer, dennoch ist es unbedingt notwendig. Der heutige Zustand ist nämlich höchst ineffizient, weil sich die Kosten für Entwicklung, Beschaffung, Ersatzteile, Ausbildung und Unterhalt addieren. Außerdem sind die Waffensysteme untereinander nur bedingt kompatibel, so dass sich Verbündete im Konfliktfall nicht einmal mit Material aushelfen könnten. Würde man die Waffensysteme vereinheitlichen, könnte man mit den bereits jetzt zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln wesentlich mehr erreichen.

Die Europäer müssen militärisch nicht so stark werden wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir uns gegen Russland nicht wirkungsvoll verteidigen könnten, schließlich erwirtschaftet die Europäische Union mit 17.371 Mrd. US-Dollar (35.700 $ pro Kopf) ein wesentlich höheres Bruttoinlandsprodukt als Russland mit 1.702 Mrd. US-Dollar (11.601 $ pro Kopf). [3] Im Grunde brauchen wir uns vor Putins Potemkinscher Armee nicht zu fürchten, trotzdem dürfen wir sie keinesfalls unterschätzen. Gegenüber Russland ist ohnehin mehr Realismus und weniger Naivität angebracht. Letztere hat uns bekanntlich erst in die verzwickte Lage gebracht, in der wir uns heute befinden und aus der wir nur mühsam wieder herauskommen.

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[1] SIPRI Military Expenditure Database
[2] Süddeutsche vom 03.12.2022, Printausgabe Seite 9
[3] Wikipedia, Angaben jeweils nominal, Europäische Union und Russland (abgefragt am 07.01.2023, 14:50 Uhr)