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15. Januar 2023, von Michael Schöfer
Die soziale Spaltung darf sich nicht noch mehr vertiefen


Wenn man sich die geforderten Mieten bei Neuvermietungen ansieht, kommt man unweigerlich zu der Auffassung, dass es offenbar nur noch Wohnungen für Besserverdienende zu geben scheint. Und die aufgrund des Ukraine-Kriegs horrend gestiegenen Energiepreise lassen sich natürlich durch Solaranlagen auf dem Dach, Wärmedämmung an der Hausfassade und Wärmepumpen im Hof gut kompensieren - falls man das Kleingeld für die dazu notwendigen Investitionen besitzt. Gering- oder Durchschnittsverdiener haben deshalb vergleichsweise wenig Möglichkeiten, ihren CO2-Fußabdruck zu verringern und sich dadurch ein gutes Gewissen zu verschaffen. Selbst wenn die alte Wohnung vom Vermieter modernisiert wird, ist sie anschließend deutlich teurer. Das können sich viele Mieter schlicht und ergreifend nicht mehr leisten, weil - gerade in den Ballungsgebieten - die Mietbelastungsquote (Anteil der Bruttokaltmiete am Haushaltsnettoeinkommen) schon jetzt vielfach ein inakzeptables Niveau erreicht hat.

Das gleiche Dilemma begegnet uns bei der Verkehrswende. Nach einer Auswertung des ADAC sind die Preise für neue Kleinstwagen zwischen Oktober 2017 und Juli 2022 im Schnitt von 15.275 Euro auf 22.048 Euro (+44,3 %) und in der Kleinwagenklasse von 20.237 Euro auf 26.325 Euro (+30,1 %) gestiegen. In den unteren Segmenten sind die Preise sogar überproportional gestiegen, denn in der unteren Mittelklasse (+21,3 %), der Mittelklasse (+20,9 %), der oberen Mittelklasse (+18,7 %) und der Oberklasse (+12,4 %) fällt das Preisplus spürbar geringer aus. [1]

Neuerdings dünnen die Autobauer das Angebot in den unteren Fahrzeugklassen peu à peu aus und setzten vermehrt auf teurere und damit profitablere Modelle. Das bereits beschlossene Verbot des Verbrenners wird da künftig ein Übriges tun, denn billig sind Elektroautos (zumindest derzeit) nicht. Ein Beispiel: Konnte man den mittlerweile eingestellten Citroen C1 hierzulande im April 2021 noch für 11.650 Euro kaufen, kostet der preiswerteste Citroen (C3) nun mindestens 14.340 Euro. Als Verbrenner wohlgemerkt, das günstigste reine Elektroauto dieses Herstellers (Citroën ë-C4) gibt es erst ab 37.540 Euro.

Das Nettogehalt eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers in Deutschland betrug 2021 im Schnitt 2.165 Euro. [2] Ob man jedoch rechnerisch 6,6 oder 17,3 Nettogehälter für einen Neuwagen bezahlen muss, ist - Ökologie hin oder her - für viele ein kaufentscheidendes Kriterium. Notgedrungen, denn die vorhandene Kaufkraft lässt nicht mehr zu. Von der nach wie vor unzureichenden Ausstattung der öffentlichen Ladeinfrastruktur ganz zu schweigen.

Wenn Wohnen und Autofahren zunehmend nur noch für die zu Verfügung stehen, die über dem Durchschnitt verdienen, ist das sozialer Sprengstoff ohnegleichen. Eine Wohnung ist unverzichtbar, doch über die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum wird nun schon seit vielen Jahren nur geredet, ohne dass sich die Situation grundlegend geändert hätte. Im Gegenteil, die Wohnungsnot wird immer schlimmer, die Mieten steigen ständig weiter. Bei der Mobilität gibt es zwar Alternativen, doch sie sind, wie etwa der beklagenswerte Zustand der Bundesbahn zeigt, nicht besonders attraktiv. Wenn sich die einen gezwungenermaßen mit dem maroden ÖPNV herumschlagen müssen, während die anderen beim Wochenendeinkauf mit ihrem Elektro-SUV Eindruck schinden, dürfte das nicht lange gutgehen. Die soziale Spaltung darf sich nicht noch mehr vertiefen. So wünschenswert der ökologische Umbau der Industriegesellschaft ist, er darf nicht an Gering- oder Durchschnittsverdienern vorbeigehen.

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[1] Auto Motor Sport vom 08.09.2022
[2] Statista, Höhe des durchschnittlichen Nettolohns/Nettogehalts im Monat je Arbeitnehmer in Deutschland von 1991 bis 2021