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21. Januar 2023, von Michael Schöfer
Es wird langsam ein bisschen viel


Die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, zeigte sich angesichts des mutmaßlichen Korruptionsskandals um die ehemalige Vizepräsidentin Eva Kaili empört und alarmiert. Sie kündigte "wegen des Skandals 'weitreichende' Reformen an. Dazu gehörten ein 'Verbot aller inoffizieller Freundschaftsgruppen, eine Überprüfung der Einhaltung unseres Verhaltenskodexes und eine gründliche Überprüfung unserer Beziehungen zu Drittländern.'" [1] In einer Plenarsitzung wurde sie geradezu pathetisch: "Machen wir uns nichts vor: Das Europäische Parlament, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird angegriffen. Die europäische Demokratie wird angegriffen. Und unsere offenen, freien, demokratischen Gesellschaften werden angegriffen. Die Feinde der Demokratie, für die allein die Existenz dieses Parlaments eine Bedrohung darstellt, werden vor nichts Halt machen. (…) Wie so viele von Ihnen bin ich in die Politik gegangen, um die Korruption zu bekämpfen. Um für die Grundsätze Europas einzutreten. Dies ist eine Prüfung für unsere Werte und unsere Verfahren, und ich versichere Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir diese Prüfung meisterhaft bestehen werden." [2]

Und nun das: Roberta Metsola ließ sich im Oktober 2022 mit ihrem Partner in ein französisches Luxushotel einladen - abendliches 5-Gänge-Menü inklusive. Die Kosten übernahm eine französische Weinbruderschaft. Und obwohl sie die Reise den Regeln zufolge bereits Ende November hätte melden müssen, geschah dies erst letzte Woche. Übrigens ohne dabei die Begleitung durch ihren Partner zu erwähnen. Man kann ja mal was vergessen, oder nicht? "Ebenfalls regelwidrig hat Metsola 125 Geschenke erst vergangene Woche öffentlich gemacht." [3] Was sind schon ein paar Bilder, Vasen und Bücher? Petitessen, an die man sich eben nur schwer erinnern kann. Man hat ja gerade mächtig viel um die Ohren, bekanntlich greift diese teuflische Korruption "unsere offenen, freien, demokratischen Gesellschaften" an. Autsch...

Taschen voller Geld, lukrative Maskendeals, Bestechung durch Autokraten, attraktive Jobangebote nach Karriereende, fragwürdige Nebenverdienste, Spendenskandale - es wird langsam ein bisschen viel. Die im Vergleich zum Einkommen der Bürgerinnen und Bürger üppige Versorgung reicht offenbar nicht. Leider bestätigen Parlamentarier immer wieder die einschlägigen Vorurteile. Wobei, wenn sich Vorurteile immer wieder bestätigen, sind es vielleicht gar keine Vorurteile, sondern bittere Realität: Menschen sind käuflich, und angeblich hat jeder seinen Preis.

Was aber in meinen Augen noch schlimmer ist: Dem gemeinen Volk erlegen sie auf, den Gürtel stetig enger zu schnallen. Überspitzt formuliert: Während sie sich mit einem Verdauungsschnaps vom 5-Gänge-Menü erholen, dekretieren sie nebenbei eine Erhöhung des Renteneintrittsalters und die Absenkung des Rentenniveaus. "Wir können es uns nicht mehr leisten, noch länger über unsere Verhältnisse zu leben." Rülps. Und wer in Luxushotels eingeladen wird, kann natürlich nicht für bezahlbaren Wohnraum sorgen. Geht halt nicht, bitte haben Sie Verständnis.

Die Kluft zwischen Arm und Reich wird nicht ohne Grund ständig größer. Beispiel Deutschland: 81 Prozent des Vermögenszuwachses der Jahre 2020 und 2021 floss an das reichste Prozent der Bevölkerung, die übrigen 99 Prozent mussten sich mit 19 Prozent begnügen. [4] Man wünscht sich einen, der diesen Augiasstall endlich einmal gründlich ausmistet. Aber die Hoffnung, es gäbe jemanden, der frei von solchen menschlichen Schwächen ist, ist mittlerweile arg geschrumpft. Wenn einer lauthals die Bekämpfung der Korruption ankündigt, muss man äußerst misstrauisch sein. Drücken wir es so aus: Meist weiß er ganz genau, wovon er spricht.

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[1] tagesschau.de vom 15.12.2022
[2] EU-Parlament, Pressemitteilung vom 12.12.2022
[3] Der Standard vom 20.01.2023
[4] tagesschau.de vom 16.01.2023