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12. Februar 2023, von Michael Schöfer
Scheitern wir mit?!


Hatte Jean-Jacques Rousseau nicht recht? "Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und dreist sagte: 'Das ist mein' und so einfältige Leute fand, die das glaubten, wurde zum wahren Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, Leiden und Schrecken würde einer dem Menschengeschlecht erspart haben, hätte er die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugerufen: 'Hört ja nicht auf diesen Betrüger. Ihr seid alle verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde keinem." (Diskurs über die Ungleichheit)

Warum sind Menschen so habgierig und gehen dabei buchstäblich über Leichen? In der Türkei und in Syrien gab es gerade ein verheerendes Erdbeben, mittlerweile werden über 30.000 Tote gemeldet. Es gibt auch fassungslos machende Berichte über die Festnahme von mutmaßlichen Plünderern, die sich am Unglück ihrer Mitmenschen bereichern. Daniel Ortega war Ende der siebziger Jahre das Idol einer ganzen Generation, als er in Nicaragua den Diktator Anastasio Somoza stürzte. Heute ist Ortega selbst ein Diktator, lässt Oppositionelle verhaften und soll ein millionenschweres Privatvermögen zusammengerafft haben. Die früheren Ideale? Perdu! Die ehemalige Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Eva Kaili, bezog monatlich eine Grundvergütung von 9.808,67 Euro plus eine Aufwandsentschädigung von 900 Euro plus 338 Euro Tagegeld für offizielle Arbeitstage des Parlaments. Wenn die Korruptionsvorwürfe wirklich stimmen, war ihr das noch immer nicht genug. In Russland ist spätestens mit Wladimir Putin die Organisierte Kriminalität an die Macht gekommen und stürzt momentan das eigene Land ins Unglück. Von der Ukraine ganz zu schweigen. Zweifellos wäre die Geschichte der Menschheit anders verlaufen, hätten unsere primitiven Vorfahren jeden, der sich zum unumschränkten Chef einer Horde aufzuschwingen versucht, auf der Stelle erschlagen.

Warum nehmen wir so etwas hin? Warum machen viele sogar aktiv mit? Wenn es sie nicht schon zuhauf gäbe, müsste man aufklärerische Bücher über den unseligen Bund von Macht- und Geldgier schreiben. Wenn es nicht schon etliche Gesellschaftsentwürfe gäbe, die das Übel an der Wurzel zu packen versprechen, müsste man ein imposantes Theoriegebäude errichten. Allerdings sind bislang alle an der menschlichen Natur gescheitert, nicht selten endeten sie in einem Desaster. Der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert. (George Bernard Shaw) Gewiss, Psychologen könnten zur Aufklärung dieses Phänomens beitragen, aber das bringt uns nicht grundlegend weiter. Eigentlich wäre genug für alle da. Eigentlich. Doch dazu müsste der Mensch genügsam und altruistisch sein. Ist er aber nicht. Er will nämlich immer mehr - und vor allem mehr als sein Nachbar nebenan. Auch wenn es im Grunde keinen Sinn ergibt. Angesichts dessen macht sich Ratlosigkeit breit. Und Müdigkeit. Vielleicht ist der Mensch tatsächlich bloß der gescheiterte Versuch der Evolution, ein intelligentes Wesen hervorzubringen. Scheitern wir mit?!