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13. Februar 2023, von Michael Schöfer
Von allen guten Geistern verlassen


Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht sind offenbar endgültig von allen guten Geistern verlassen. In ihrem "Manifest für Frieden" plädieren sie für Verhandlungen mit Russland: "Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern." Diplomatie in allen Ehren, aber es bleiben zentrale Fragen offen. Etwa die, wie man Wladimir Putin, der alle Zusagen und Verträge gebrochen hat, trauen kann. Was sein Wort wert ist, hat er ja hinreichend unter Beweis gestellt: nichts! Diese Frage bleibt bei Wagenknecht und Schwarzer ungeklärt. Ebenso, mit welchem Angebot man ihn, der bis dato erklärtermaßen weiterhin seine Maximalziele verfolgt (Unterwerfung der Ukraine, Annexion durch Russland), überhaupt an den Verhandlungstisch bringen will.

Sie suggerieren obendrein, es habe bislang keine diplomatischen Versuche gegeben, den Krieg zu verhindern oder zu beenden. Leiden Wagenknecht und Schwarzer unter einer Amnesie? Haben sie schon den grotesk langen weißen Tisch im Kreml vergessen, an dem Emmanuel Macron und Olaf Scholz am Vorabend des Krieges Platz nehmen mussten? "Wladimir Putin bestreitet jegliche Kriegsabsicht", lauteten die Schlagzeilen neun Tage vor Kriegsbeginn. [1] Haben sie die deutlichen Worte der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Antrittsbesuch in Moskau vergessen? Oder das Treffen des US-Außenministers Antony Blinken mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow in Genf? Russland bedrohe niemanden und überfalle kein Land, erklärte Lawrow dort drei Tage vor dem Überfall. [2] Alles gelogen, wie wir spätestens seit dem 24. Februar 2022 wissen. Macron und Scholz telefonieren bekanntermaßen ab und zu mit Putin, allerdings ohne greifbare Ergebnisse. Die bittere Wahrheit ist: Sahra Wagenknecht ging der russischen Propaganda auf den Leim: "Ich meine, Russland, das ist ja relativ deutlich, hat faktisch kein Interesse daran, in die Ukraine einzumarschieren. Natürlich nicht." (Sahra Wagenknecht am 20. Februar 2022 bei Anne Will.) Und das tut sie offenbar noch immer.

Was verhandelt werden soll, ist ebenfalls schleierhaft. Nehmen wir an, ich breche in Ihre Wohnung ein, ermorde Ihren Bruder und vergewaltige Ihre Schwester. Soll dann darüber verhandelt werden, ob ich mich mit dem Badezimmer und der Küche zufrieden gebe, anstatt die ganze Wohnung in Besitz zu nehmen? Kann ein "Kompromiss" so aussehen? Völlig absurd! Die Ukraine könne "gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen", behaupten Wagenknecht und Schwarzer. Ach ja? Die afghanischen Mudschahedin und Taliban haben es getan, und das gleich zwei Mal. Wohlgemerkt gegen die größten Atommächte der Welt (UdSSR 1979-1989, USA 2001-2021). Auch die Vietnamesen gewannen bekanntlich ihren Krieg gegen die USA.

Der Zynismus der beiden ist schier unerträglich: "Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität." Merkwürdig, dass Wagenknecht und Schwarzer diese Solidarität ausgerechnet mit einem Stopp der Waffenlieferungen verwirklichen wollen, also der bewusst herbeigeführten Wehrlosigkeit des überfallenen Opfers. Faktisch sähe ihre Solidarität dann so aus: Lasst euch wie in Butscha ruhig weiter von den russischen Soldaten foltern, vergewaltigen und massakrieren. Hauptsache, wir Deutschen bleiben von jeglicher Unbill verschont. Wer einer Atommacht aus Angst vor dem Atomkrieg bei ihrem verbrecherischen Tun freie Hand lässt, handelt in letzter Konsequenz menschenverachtend und egoistisch. Natürlich darf man die Gefahr eines Atomkriegs nicht bagatellisieren, aber man sollte die Angst davor auch nicht als Freibrief für den Kriegsverbrecher missbrauchen.

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[1] manager-magazin vom 15.02.2022
[2] ZDF vom 21.02.2022