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10. März 2023, von Michael Schöfer
Betroffenheitsgesülze


Rechtsextreme sind Sportschützen. Reichsbürger sind Sportschützen. Amokläufer sind Sportschützen. Alle? Nein, nicht alle, aber etliche, denn so kommen sie - ganz legal - an ihre Tatwaffen, mit denen sie dann andere Menschen ermorden. Und weil man nicht in die Köpfe der Menschen hineinschauen kann, ist die beste Prävention die Entwaffnung aller Sportschützen. Grundsatz: Schusswaffen haben in Privathand nichts zu suchen.

Das wissen wir schon lange, aber die Politik weigert sich beharrlich, entsprechend zu handeln. Es wird zwar ab und zu ein bisschen am Waffenrecht herumgedoktert, doch am Privatbesitz von Schusswaffen ändert sich nichts. Die Politiker machen sich deshalb an Amoktaten wie die jüngste in Hamburg mit sieben Toten und acht Verletzten mitschuldig. Nicht juristisch, sondern moralisch. Mitschuldig durch Unterlassen.

Und das sind die Folgen: Nach Angaben der Behörden war der Amokläufer von Hamburg, ein Sportschütze, seit kurzem legal im Besitz der Tatwaffe, einer halbautomatischen Pistole, und bunkerte zu Hause eine große Menge Munition (15 geladene Magazine mit jeweils 15 Patronen und 4 Schachteln Munition mit weiteren 200 Patronen). Bei der Bluttat im Gemeindezentrum der Zeugen Jehovas hat er mehr als 100 Schüsse abgegeben. [1]

"Meine Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen", hört man jetzt die Politiker wieder sagen. Oder: "Den Angehörigen der Opfer gilt mein tiefes Mitgefühl." Ich kann diese vorgestanzten Trauerbekundungen und das unaufrichtige Betroffenheitsgesülze nicht mehr hören. Wäre es ehrlich gemeint, würden die Politiker konsequent handeln. Erfahrungsgemäß ist es obendrein vom Betroffenheitsgesülze zum Vorwurf des Generalverdachts nicht allzu weit, denn sobald Forderungen nach Entwaffnung der Sportschützen laut werden, wehren sich diese mit der Warnung, man dürfe Sportschützen nicht unter Generalverdacht stellen. Und die Politik knickt kläglich ein - bis irgendwann erneut ein schockierendes Verbrechen geschieht. Dann sind die Gedanken angeblich wieder einmal bei den Opfern und ihren Angehörigen. So geht das nun schon seit Jahrzehnten. Ein teuflischer Kreislauf aus Dummheit, Ignoranz und Wählerverarschung.


Sportschützenopfer-Karte 1990 bis Januar 2023 [2]

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[1] NDR vom 10.03.2023

Nachtrag (24.03.2023):
Man hat ja in solchen Fällen ungern recht, aber es hat nicht lange gedauert, bis sich meine Befürchtungen bestätigten: Am 8. März, also nur einen Tag vor dem Amoklauf von Hamburg, erschoss ein Mann in Bad Lauchstädt bei Halle (Saale) erst seine getrennt von ihm lebende Ehefrau und dann sich selbst. "Der Frührentner war Mitglied in einem Schützenverein und besaß legal mehrere Waffen." [3] Der mutmaßliche "Reichsbürger", der am 20. März bei einer Durchsuchung auf einen Polizeibeamten schoss, war ebenfalls Sportschütze und besaß neben etlichen illegalen auch 22 legale Schusswaffen. [4] Und wie von mir prophezeit: Die Politik zeigt sich "geschockt", "erschüttert" oder "entsetzt" und beklagt haarsträubende Versäumnisse, will aber wie gehabt zum wiederholten Male bloß das Waffenrecht verschärfen, an die Entwaffnung der Sportschützen traut sie sich noch immer nicht heran. Klingt ganz nach der perfiden Taktik: "Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen." (Scheinaktivität für die Galerie) Bis zur nächsten Tat. Es ist immer das Gleiche.

[3] Süddeutsche vom 23.03.2023, Printausgabe, Seite 6
[4] Süddeutsche vom 24.03.2023, Printausgabe, Seite 1