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15. März 2023, von Michael Schöfer
Wahlrecht einfach, übersichtlich und manipulationssicher


Die Union ist wirklich dreist: Die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP will das Wahlrecht ändern, um die Anzahl der Abgeordneten im Bundestag auf ein akzeptables Maß zu reduzieren, aber CDU und CSU schreien Zeter und Mordio. Die geplante Wahlrechtsreform sei "Betrug am Wähler", behauptet CDU-Vorsitzender Friedrich Merz. [1] Alexander Dobrindt, CSU-Landesgruppenchef im Deutschen Bundestag, unterstellt den Regierungsparteien, eine Manipulation zu planen. Gemach, gemach, denn auch beim künftigen Wahlrecht richtet sich die Zusammensetzung des Parlaments allein nach dem Ergebnis der Verhältniswahl (dem Anteil an den Zweitstimmen) und ist somit repräsentativ für den Wählerwillen. Und darauf kommt es schließlich an.

Dreist ist die Union, weil sie in der Vergangenheit genau das aus eigensüchtigen Motiven heraus ändern wollte. Nicht die Ampel, sondern die Union will sich einen unlauteren Vorteil verschaffen. Im Januar 2023 präsentierten CDU und CSU nach langer Diskussion ihren Vorschlag zur Wahlrechtsänderung, danach sollte die Anzahl der Wahlkreise auf 270 begrenzt werden (derzeit sind es 299). [2] Da die Union aber auch den Vorschlag machte, künftig 15 Überhangmandate nicht mehr auszugleichen, wovon - gewiss rein zufällig - hauptsächlich die Union profitieren würde (bei der BTW 2021 entfielen von den 34 Überhangmandaten 12 auf die CDU und 11 auf die CSU), könnte die Sitzverteilung den Wählerwillen nicht mehr 1:1 widerspiegeln. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Zudem sollte die Grundmandatsklausel erst bei fünf Direktmandaten greifen (bei der Sitzverteilung werden bislang auch Parteien berücksichtigt, die unter der 5-Prozent-Hürde bleiben, aber mindestens drei Wahlkreise gewinnen). Alles eingerechnet würde bei einem knappen Wahlergebnis aus der Bundestagswahl womöglich eine andere Regierung hervorgehen, als von den Wählerinnen und Wählern per Stimmabgabe gewünscht, und das, liebe Union, wäre tatsächlich "Betrug am Wähler".

Das Wahlrecht ist oft kompliziert und kann selbst in einer Demokratie dazu führen, den Wählerwillen stark zu verfälschen, insofern sollte man das Ganze nicht auf die leichte Schulter nehmen. Und Komplexität ist stets ein beliebtes Einfallstor für gezielte, aber leicht zu übersehende Manipulationen.

Die wenigsten Wähler dürften etwa imstande sein, das hierzulande geltende System der Überhang- und Ausgleichsmandate korrekt zu erläutern. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei viele Direktwahlkreise gewinnt und damit mehr Abgeordnete hat, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Damit Parteien, die weniger Wahlkreise erobern, dadurch keine Nachteile erleiden, erhalten sie Ausgleichsmandate. Mit Ausnahme von drei Überhangmandaten, die seit der Wahlrechtsänderung von 2020 nicht mehr ausgeglichen werden. Alles klar?

Andere Beispiele: Wenn Hillary Clinton 2016 bei der Präsidentschaftswahl in den USA landesweit knapp drei Millionen Stimmen (2,09 Prozentpunkte) mehr bekommen hat als ihr Konkurrent Donald Trump, Letzterer aber dennoch die Wahl gewann, lag das an den Besonderheiten des amerikanischen Mehrheitswahlrechts. Das Gleiche in Japan: Die Liberaldemokratische Partei (LDP) kam bei der Parlamentswahl 2021 im Unterhaus bei der Verhältniswahl auf lediglich 34,7 Prozent, errang dort aber aufgrund des in Japan geltenden Grabenwahlsystems trotzdem die absolute Mehrheit der Mandate (261 von 465 Sitzen). Auch in Großbritannien erreichte die Konservative Partei im Jahr 2015 bei der Unterhauswahl die absolute Mehrheit der Mandate (331 von 650 Sitzen), obgleich sie ebenfalls nur von einer Minderheit der Briten (36,9 %) gewählt wurde. Hier heißt es in den Wahlkreisen: The winner takes all. Nur so ist erklärbar, warum die Liberaldemokraten mit einem landesweiten Stimmenanteil von 7,9 Prozent lediglich 8 Unterhaussitze bekamen, während die Scottish National Party mit einem Stimmenanteil von vergleichsweise mageren 4,7 Prozent 56 Unterhaussitze erhalten hat und damit im House of Commons sogar drittstärkste Fraktion wurde.

Das kann in Deutschland nicht passieren, denn hier richtet sich die Zusammensetzung des Parlaments - mit o.g. Ausnahme - allein nach dem Ergebnis der Zweitstimmen (= Verhältniswahl). Durch die Wahlkreisergebnisse wird allerdings die Anzahl der Abgeordneten (eigentlich laut Bundeswahlgesetz auf 598 begrenzt) stark aufgebläht, momentan sind es aufgrund von 138 Überhang- und Ausgleichsmandaten stattliche 736. Nach dem Vorschlag der Ampel soll es keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr geben, die Anzahl der Mandate wird gesetzlich auf 630 festgelegt. Da freilich die Anzahl der Wahlkreise gleich bleiben soll, bedeutet das, dass nicht jeder Wahlkreisgewinner in den Bundestag einziehen darf. Bisher war das Direktmandat sakrosankt. Der Tagesspiegel hat es auf der Grundlage der Bundestagswahl 2021 durchrechnen lassen: "In insgesamt 24 Wahlkreisen hätten die Erstplatzierten kein Direktmandat gewonnen, weil die nunmehr geltende Regelung der Zweitstimmendeckung dazu geführt hätte, dass diese Mandate nicht zugeteilt worden wären." [3] Und wegen der Streichung der Grundmandatsklausel wäre die Linke nicht mehr im Bundestag. Ein Schicksal, das auch der CSU drohen könnte (Stimmenanteil 2021 bundesweit bloß 5,2 %).

Es bleibt abzuwarten, ob das Bundesverfassungsgericht den bereits angekündigten Klagen stattgeben wird. Will man die Anzahl der Mandate im Bundestag verringern, muss man logischerweise bei den Wahlkreisen ansetzen. Beim Proporz, dass die Mandate im Parlament exakt dem Wählerwillen entsprechen, darf es hingegen keine Abstriche geben. Das Volk soll die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse bekommen, die es haben will. Die nachvollziehbarste und keinerlei Widersprüche mehr enthaltende Lösung wäre meines Erachtens jedoch die vollständige Abschaffung der Wahlkreise. Wenn wir bei der Bundestagswahl nur noch eine Stimme hätten, die der bisherigen Zweitstimme entspricht, könnte man wegen des damit verbundenen Wegfalls der Überhang- und Ausgleichsmandate die ursprüngliche Begrenzung auf 598 Mandate einhalten und würde im Parlament dennoch weiterhin exakt den Wählerwillen abbilden. Das Wahlrecht wäre einfach, übersichtlich und manipulationssicher. Aber das scheint, warum auch immer, keine der im Bundestag vertretenen Partei zu wollen.

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[2] tagesschau.de vom 20.01.2023
[3] Der Tagesspiegel vom 14.03.2023