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19. März 2023, von Michael Schöfer
Was soll ich mit dem Kram?


Man sollte die Rente am besten mit dem Aussondern seines Privatarchivs beginnen und diese Grausamkeit keinesfalls posthum den eigenen Kindern überlassen, die würden nämlich bestimmt fragen: "Was sollen wir mit dem Kram?" Zu Recht, denn über die Jahrzehnte sammelt sich ziemlich viel nutzloses Papier an. (Für die Jüngeren unter uns: Früher hat man Artikel und Leserbriefe noch fein säuberlich ausgedruckt, heutzutage archiviert man ja bekanntlich alles elektronisch.) Da ist es wirklich von Vorteil, gleich selbst zu fragen: "Was soll ich mit dem Kram? Weg damit! Keiner wird ihn je wieder lesen - weder ich noch andere." Das Wesentliche steht ohnehin auf der Homepage, wo es wenigstens ab und zu von Webcrawlern besucht wird.

Nun, man will im Grunde auch gar nicht, dass andere das Privatarchiv noch einmal lesen. Vor allem nicht die eigenen Kinder. Menschen entwickeln sich zum Glück weiter, man ist mit 64 logischerweise nicht mehr derselbe wie mit 34. Und das ist auch gut so. Alles andere wäre höchst verwunderlich. Dennoch fragt man sich beim Aussondern ständig: "Warum habe ich damals bloß diesen Sch... geschrieben?" Das, was man einst wahrscheinlich für unschlagbar witzig hielt, ist einem heute ehrlich gesagt fast schon ein bisschen peinlich. Jedenfalls mir geht es so.

Es ist wie mit Fotos aus jungen Jahren, als man inzwischen längst aus der Mode gekommene Frisuren oder Kleidungsstücke trug. Diese riesigen Brillen! Und erst die ockerfarbenen Pullunder mit dem auffälligen Karomuster. Vor 45 Jahren total angesagt. Unglaublich, nicht wahr? Besser, das Zeug wandert in die Müllverbrennungsanlage. Mitsamt den Liebesbriefen an eine gewisse P., die man offenbar einmal sehr gemocht hat, an die man sich aber partout nicht mehr erinnern kann. Liegt es am Alter oder doch an der im Nachhinein unerklärbaren Flüchtigkeit der Begegnung? Keine Ahnung. Es ist anscheinend tatsächlich etwas dran: Worte sind nur Schall und Rauch.

Grausam ist das Aussondern in zweierlei Hinsicht: Erstens ist es anstrengend, die vielen DIN A4-Ordner peu à peu zu sichten und das lästig gewordene Schriftgut in Müllsäcken zur geordneten Entsorgung zu verstauen. Zweitens melden sich natürlich angesichts des oben Gesagten die Zweifel: War es das wirklich wert? Hätte man die vielen Stunden nicht besser mit dem Lesen guter Bücher verbringen sollen? Andererseits, wenn später die Demenz zuschlägt… Egal, vergeudete Lebenszeit lässt sich jetzt ohnehin nicht mehr kompensieren, lediglich deren Verlust nachträglich beklagen. Die Tragik des menschlichen Lebens liegt darin, in jungen Jahren töricht zu sein, dies jedoch - wenn überhaupt - erst im Alter zu erkennen.