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24. März 2023, von Michael Schöfer
Wie kann das sein?


Die Pleite der Silicon Valley Bank in den USA hat abermals das Finanzsystem erschüttert, dabei wollten wir es doch eigentlich nach der Finanzkrise 2008/2009 gar nicht mehr so weit kommen lassen. Wie gehabt muss der Staat einspringen und sämtliche Einlagen garantieren (nicht nur die bis zur Obergrenze der Einlagensicherung). Das heißt, man handelt abermals nach dem berühmt-berüchtigten Motto: Die Gewinne wandern in die Taschen der Besserverdienenden, während die Verluste von der Allgemeinheit getragen werden. Wie kann das sein?

Die Pleite der Silicon Valley Bank hat auch die Banken in Europa angesteckt, die Credit Suisse musste in einer dramatischen Wochenendaktion der Schweizer Regierung vor dem Zusammenbruch gerettet werden, sie wird nun von der UBS geschluckt. "Das Resultat ist eine Bank", bemerkt die Züricher NZZ, "deren Bilanzsumme [von 1,5 Billionen Dollar] doppelt so gross ist wie das jährliche Bruttoinlandprodukt der Schweiz." Das Klumpenrisiko wachse dadurch enorm. [1] Bislang dachte man, bei "too big to fail" wäre keine Steigerung mehr möglich, dem ist offenkundig nicht so. Wie kann das sein?

Seit Jahrzehnten wird die wachsende soziale Spaltung der Gesellschaft beklagt, aber alle wundern sich über das Auftauchen der Wutbürger. Bei den Protesten gegen die Rentenreform in Frankreich gab es Hunderte von verletzten Polizisten. Das ist natürlich vollkommen inakzeptabel, aber man fragt sich als entsetzter Beobachter: Wird nur noch Politik für die Reichen gemacht und die Kleinen sollen die Zeche zahlen? Emmanuel Macron hat nämlich schon vor Jahren die Vermögensteuer der Reichen drastisch gesenkt. Wie kann das sein?

Klingt für mich nach Ausplünderung des Unternehmens: "Der Schweizer Tages-Anzeiger hat (...) nachgerechnet: In den letzten zehn Jahren machte die Credit Suisse insgesamt einen Verlust von 3,2 Milliarden Franken - und schüttete in der gleichen Zeit Boni von 32 Milliarden Franken aus." [2] Bedauerlicherweise kein Schweizer Alleinstellungsmerkmal. Die Deutsche Bank soll zwischen 2009 und 2022 Boni von insgesamt 36,5 Mrd. Euro an ihre Beschäftigten ausgeschüttet haben. [3] Allerdings sind die Erträge der Bank seit langem recht dürftig, zwischen 2015 und 2019 fuhr sie sogar Verluste in Höhe von 15 Mrd. Euro ein. [4] Boni trotz Erfolglosigkeit? Wie kann das sein?

Der Apple-Konzern will in München eine weitere Milliarde Euro investieren, die Münchner Bevölkerung befürchtet aber wohl nicht zu Unrecht einen noch dramatischeren Anstieg der Mieten. Dabei ist das ohnehin extreme Mietniveau schon allein in den letzten beiden Jahren im Schnitt um satte 21 Prozent gestiegen. [5] Braucht München keine Kindergärtnerinnen, Altenpfleger, Straßenbahnfahrer oder Krankenschwestern mehr, denn die können sich das Wohnen dort eigentlich nicht mehr leisten? Ein bundesweites Problem, doch die Politik bekommt es einfach nicht in den Griff und lässt die Mieter im Regen stehen. Wie kann das sein?

Immer wenn in Deutschland gestreikt wird, liest man in den Gazetten: Das ist der falsche Zeitpunkt für einen Streik. Und überhaupt könne man das Ganze bestimmt eleganter lösen, als ausgerechnet über diese höchst unerquicklichen Arbeitsniederlegungen. Genau besehen ist freilich nie der richtige Zeitpunkt für einen Streik. Jedenfalls drängt sich dieser Eindruck bei allen auf, die die Kommentare der Meinungsmacher schon über viele Jahre hinweg verfolgen. Außerdem kommen Gehaltserhöhungen eben nicht von allein, den Beteuerungen, grundsätzlich hätten die Arbeitnehmer ja recht, zum Trotz. Fakt ist: Die Reallöhne sind drei Jahre hintereinander gesunken (2020: -1,1 %, 2021: -0,1 %, 2022: -3,1 %). [6] Wobei selbst die EZB konstatiert, dass 2022 für die Unternehmen eine "fantastische Zeit" gewesen sei und die Unternehmensgewinne stärker als die Arbeitskosten gestiegen wären. [7] Die Arbeitnehmer sollen sich zurückhalten, aber die Unternehmen dürfen sich dumm und dämlich verdienen? Wie kann das sein?

Die Frage "Wie kann das sein?" könnte man noch schier endlos fortsetzen. Allein die Tatsache, dass Klimaschutz immer dann von irgendjemand blockiert wird, wenn konkrete Maßnahmen auf dem Tisch liegen, ist zum Haareausraufen. Windstrom vom Norden, wo er am effizientesten entsteht, in den Süden transportieren, wo große Verbraucher sitzen, stößt bei den Anwohnern der geplanten Stromtrassen auf heftigen Widerstand. Und dann wird etwa die Bevölkerung in Baden-Württemberg zu bestimmten Zeiten zum Stromsparen aufgefordert. Aber nicht, weil es zu wenig Strom gäbe, sondern weil kurioserweise im Norden zu viel entsteht, er aber mangels Leitungskapazität nicht in den Süden transportiert werden kann. Die Stabilität des Netzes sei in Gefahr. Anstatt billigen Windstrom zu verbrauchen, müssen die südlichen Stromversorger teuren Strom aus dem Ausland importieren, was wiederum auf die Stromverbraucher umgelegt wird. Das ist doch irre. Ohne Zweifel, aber wir bekommen ja noch nicht einmal ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen hin. Wie kann das sein?

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[1] NZZ-Online vom 21.03.2023
[2] Süddeutsche Zeitung vom 24.03.2023, Printausgabe, Seite 3
[3] Statista, Höhe der von der Deutschen Bank an ihre Mitarbeiter gezahlten leistungsabhängigen variablen Vergütung (Boni) in den Jahren von 2009 bis 2022
[4] Deutschlandfunk vom 30.01.2020
[5] muenchen.de vom 16.03.2023
[6] Statistisches Bundesamt, Entwicklung der Reallöhne, der Nominallöhne und der Verbraucherpreise
[7] tagesschau.de vom 22.03.2023