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28. März 2023, von Michael Schöfer
Die Totengräber ihrer Völker


Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow hat schon vor mehr als zehn Jahren in einem Interview auf den entscheidenden Unterschied zwischen Schach und der Politik in Russland unter Wladimir Putin hingewiesen.

Frage: "Wer das System Putin herausfordert, landet schnell hinter Gitter. Treten Sie gegen einen Gegner an, der über drei Damen verfügt?" [Hinweis zum Kontext: Kasparow wurde kurz zuvor bei einer Demonstration in Moskau geschlagen und verhaftet. Anm. d. Verf.]

Garri Kasparow: "Es könnte sogar noch schlimmer sein. Denn egal, ob eine Dame oder drei Damen - im Schach bleiben zumindest die Regeln bestehen. Aber in der russischen Politik trete ich gegen jemanden an, der die Regeln ständig verändert. Das heißt, dass die Analogie einfach hinkt. Weil wir im Schach feste Regeln und offene Ergebnisse haben. In Russland ist es umgekehrt: Das Ergebnis steht fest, die Regeln ändern sich ständig." [1]

Eine ebenso präzise wie einprägsame Beschreibung, weshalb er sie bis heute gerne verwendet: "Im Schach gibt es Regeln, an die sich beide Seiten halten. Diktatoren kümmern sich nicht um Regeln, außer um jene, die sie selber aufstellen und die man nicht voraussagen kann." [2]

Wladimir Putin ist diesbezüglich leider keine Ausnahme, so hat auch Xi Jinping die Regeln ändern lassen, um künftig auf unbegrenzte Zeit herrschen zu dürfen. Wobei hinzugefügt werden muss, dass diese Regeländerung bloß erfolgte, um wenigstens nach außen hin den Schein zu wahren, denn die Machthaber in Peking verstoßen bekanntlich ständig gegen Regeln. So garantiert etwa die Verfassung der Volksrepublik China "die Freiheit der Rede, der Publikation, der Versammlung, der Vereinigung, der Durchführung von Straßenumzügen und Demonstrationen" (Artikel 35). Und zumindest pro forma "respektiert und beschützt" der Staat "die Menschenrechte" (Artikel 33). Doch jeder weiß, dass die chinesische Verfassung das Papier nicht wert ist, auf dem sie geschrieben steht.

Willkürliche Regeländerungen bzw. ungeahndete Regelverstöße sind beileibe kein Merkmal von Diktaturen, auch in liberalen Demokratien wird von Regierenden immer wieder der Versuch unternommen, die Regeln einseitig zum eigenen Vorteil zu ändern. Als Donald Trump die Präsidentschaftswahl 2020 verlor, stachelte er seine Anhänger zum Sturm aufs Kapitol auf. Ein Putschversuch, der glücklicherweise misslang. Kurz vorher rief er den Wahlleiter von Georgia an und wollte ihn dazu veranlassen, das Wahlergebnis des Bundesstaates zu fälschen: "All I want to do is this. I just want to find 11,780 votes, which is one more than we have" ("Alles, was ich tun möchte, ist dies. Ich möchte nur 11.780 Stimmen finden, das ist eine mehr als wir haben"). [3]

Polen, Ungarn und Israel sind ebenfalls bekannte Beispiele aus den letzten Jahren. Im Allgemeinen kommen dabei zwei Dinge zum Tragen: Erstens will man mit einer Justizreform die Gewaltenteilung aushebeln oder die Gerichte mehrheitlich mit eigenen Anhängern bestücken. Die Exekutive und die von ihr dominierte Legislative sollen in ihrem Handeln nicht mehr durch lästige Gerichtsurteile eingeschränkt sein, in denen die Richter auf Einhaltung der Regeln pochen. Zweitens versucht man, die Medien zu kontrollieren und die Berichterstattung zu beeinflussen. Wenn das Volk fast nur noch Kommentare liest, die im Sinne der Herrschenden ausfallen, müssen Letztere oft nicht einmal zu so plumpen Maßnahmen wie Wahlfälschung greifen.

Es ist immer wieder ein Mix aus Nationalismus und Religion, der das Fundament, auf dem die Demokratie ruht, zu zerstören trachtet. Und erfahrungsgemäß führen Autokraten/Diktatoren ihr Land anschließend nicht - wie versprochen - zu neuer Blüte, sondern fast ausnahmslos in den Abgrund (oft mithilfe von Kriegen). Welche Diktatur war bislang dauerhaft wissenschaftlich innovativer und ökonomisch erfolgreicher als liberale Demokratien? Keine einzige. Und diesbezüglich wird auch China keine Ausnahme sein, jedenfalls solange in den Demokratien die Fähigkeit zur Selbstkorrektur erhalten bleibt. Die Demokratie geht nicht davon aus, dass die Menschen per se gut sind. Im Gegenteil, sie berücksichtigt menschliche Schwächen wie Intoleranz, Machtgier und Egoismus. Als Korrektiv erfand man die Gewaltenteilung: Legislative (gesetzgebende Gewalt), Judikative (richterliche Gewalt) und Exekutive (vollziehende Gewalt) kontrollieren sich gegenseitig. Macht soll nicht allein in einer Hand konzentriert sein, um dem Missbrauch der Macht vorzubeugen.

Menschen machen naturgemäß Fehler, Gesellschaften weisen stets irgendwelche Mängel auf, über die dann das Volk diskutiert und sie ggf. korrigiert, indem es in freien Wahlen die Regierenden austauscht. Wo man allerdings nicht mehr über die Fehler der Regierenden und die Mängel der Gesellschaft reden darf, weil Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt sind, hemmt dies die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Wo Wahlen manipuliert werden, bleiben logischerweise die Inkompetenten und Korrupten an der Macht, während die Kompetenten und Integren nicht den Hauch einer Chance besitzen, was sich wiederum in mangelhaften ökonomischen Erfolgen und politischen Ergebnissen äußert. Fatale Folge: Das gesellschaftliche Leben stirbt peu à peu ab, während die innere und äußere Gewalt sukzessive wächst. Der Niedergang ist vorprogrammiert.

Um es an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Es geht nicht um die Auseinandersetzung, wie man konkret die unterschiedlichen Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern austarieren soll, sondern um den Erhalt der Fähigkeit, als Gesellschaft nach vordefinierten Regeln darüber entscheiden zu dürfen. Wie es eingangs Garri Kasparow formulierte: Es geht nicht um die Anzahl der Damen auf dem Schachbrett, sondern um die Spielregeln, wie viele überhaupt draufstehen dürfen.

Nationale und religiöse Fanatiker wollen mit anderen nicht im demokratischen Diskurs über bestimmte Maßnahmen debattieren, sondern der Gesellschaft entgegen den in der Verfassung niedergeschriebenen Spielregeln ihre eigenen Ansichten aufzwingen. Nationale und religiöse Fanatiker wollen in die Entscheidungsfreiheit eingreifen, weil sie angeblich höhere Ziele verfolgen, die ihrer Interpretation nach keinesfalls durch irgendwelche abweichenden Beschlüsse zur Disposition stehen dürfen. Anders ausgedrückt: Fanatiker propagieren Axiome (Wahrheiten, die nicht bewiesen werden müssen, aber dennoch allgemeingültig sein sollen). Und wenn sie einmal die Macht haben, die Spielregeln zu bestimmen, geben sie sie ungern wieder her. Ein Weg, der auf lange Sicht unabwendbar in den Untergang führt. Autokraten und Diktatoren bauen nichts auf, sie zerstören vielmehr alles. Sie sind in Wahrheit die Totengräber ihrer Völker.

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[1] Landeszeitung Lüneburg vom 27.09.2012
[2] Blick vom 11.11.2022
[3] Washington Post vom 03.01.2021