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29. März 2023, von Michael Schöfer
Rolle rückwärts


"Die Einhaltung der Klimaschutzziele soll zukünftig anhand einer sektorübergreifenden und mehrjährigen Gesamtrechnung überprüft werden", heißt es im Beschlusspapier des Koalitionsausschusses. Zudem gibt es beim Naturschutzrecht Rückschritte: "Der bisherige Grundsatz, wonach es als 'Realkompensation' für den Verlust von Naturflächen Kompensationen auf anderen Flächen geben muss, soll aufgeweicht werden. Stattdessen soll die Kompensation auch in Form einer Geldleistung erfolgen können." Realkompensationen sind Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen, z.B. laut Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes "die Umsiedlung von Tieren und Pflanzen, die Renaturierung von Fließgewässern sowie die Herstellung von Biotopen". [1]

Strengere Vorgaben für einzelne Wirtschaftssektoren waren jedoch ursprünglich der Kernpunkt des - durch die Novellierung weiter verschärften - Klimaschutzgesetzes der damaligen Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD). "Kein Mitglied der Bundesregierung kann sich dann wegducken", verkündete sie lauthals. [2] Um die Vorgaben (Treibhausgasneutralität bis 2045) einzuhalten, "werden die Minderungsziele für die einzelnen Sektoren (Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft) neu festgelegt", hieß es 2021 bei Vorlage des Entwurfs. [3] "Das Klimaschutzgesetz wird jetzt sicherstellen, dass wir die neuen, die deutlich höheren Ziele für 2030 und 2040 zuverlässig erreichen - bis hin zur Treibhausgasneutralität in 2045. Der Schlüssel dazu sind die Sektorziele. (…) Alle die, die das Klimaschutzgesetz als zahnlosen Tiger kritisiert haben, werden sehr schnell erleben, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Architektur des Klimaschutzhauses steht", sagte Svenja Schulze in der Bundestagsdebatte. [4]

Die FDP, seinerzeit in der Opposition, hatte entgegengesetzte Vorstellungen: "Der Ansatz, einzelnen Sektoren Vorgaben für den CO2-Ausstoß zu machen, sei nicht effizient (...). Denn dieses System sorge nicht dafür, dass der Euro dort ausgegeben werde, wo er am effizientesten eingesetzt werde." [5] Nun hat sich die FDP erfolgreich bei der Aufweichung des Klimaschutzes durchgesetzt, obgleich die SPD die Initiatorin des Klimaschutzgesetzes ist und die Grünen seit langem für härtere Klimaschutz-Maßnahmen plädieren. Obendrein erinnern wir uns an die Wahlwerbung bei der letzten Bundestagswahl: "Kanzler für Klimaschutz", ließ Olaf Scholz plakatieren. Offenbar bloß die übliche Wahlpropaganda. Dass es nach Wahlen oft anders aussieht, sind wir ja inzwischen gewohnt.

Der zahnlose Tiger ist als Bettvorleger zurückgekehrt, die Architektur des Klimaschutzhauses wie ein Kartenhaus zusammengefallen, ein herber Rückschlag für den Klimaschutz. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) kann jetzt ruhiger schlafen, denn damit entfällt ein Gutteil des Drucks, endlich konkrete Maßnahmen zur Einhaltung der Sektorziele im Verkehrsbereich zu präsentieren. Bislang blieb er diese nämlich trotz einer deutlichen Überschreitung schuldig (2022 tatsächlich emittiert: 148 Mio. t CO2-Äquivalente, gesetzliche Vorgabe: 139 Mio. t CO2-Äquivalente). Von einem "verlässlichen Rahmen für die Zukunft" (Svenja Schulze) kann beim besten Willen keine Rede mehr sein, weil sich Mitglieder der Bundesregierung nun durchaus wegducken können.

Als hätten sie es geahnt: Die "Abschaffung der Sektorziele im Klimaschutzgesetz wäre verantwortungslos. 13 Umweltorganisationen appellieren in einem (...) offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz, die jahresscharfen Sektorziele im Klimaschutzgesetz sowie das Monitoring der Ziele nicht zu verwässern. (…) Statt sich an geltende Gesetze zu halten, wollen Minister Wissing und die FDP das Klimaschutzgesetz durch die Abschaffung der Sektorziele lieber so weit entkernen, dass das klimapolitische Unterlassen im Verkehrssektor nicht mehr regelmäßig thematisiert wird." [6] Genau das ist jetzt passiert.

Wenn man sich künftig auch noch leichter mit Geld von Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen freikaufen kann, spricht das jedem ökologischen Ansatz Hohn. Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Wir beklagen ein dramatisches Artensterben, aber ein Verursacher muss darauf fortan nicht mehr allzu viel Rücksicht nehmen, denn er braucht ja lediglich seine Schatulle zu öffnen. Der Natur sind Banküberweisungen allerdings schnurzpiepegal. Der Geldersatz ist zwar schon jetzt möglich, bislang freilich bloß nachrangig. Aus der Ankündigung lassen sich noch keine Details entnehmen, aber sie macht nur Sinn, wenn es nunmehr anders (d.h. im Sinne des Naturschutzes ungünstiger) ist. Fatale Konsequenz: Der ohnehin unzureichende Naturschutz wird verschlechtert anstatt verbessert.

Ein schlimmes Signal. Diese Rolle rückwärts ist aus ökologischer Sicht verheerend, und die Grünen müssen sich ernsthaft fragen, wie lange sie dieses Spiel noch mitmachen wollen. In der Politik ist wichtig, was dabei unter dem Strich herauskommt. Doch die Ergebnisse bei der Umweltpolitik sind bisher recht dürftig.

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[1] tagesschau.de vom 29.03.2023 und Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen
[2] Euraktiv vom 12.03.2019
[3] Deutscher Bundestag, Bundestag verschärft das Klimaschutzgesetz
[4] Bundesregierung, Rede der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, Svenja Schulze, zum Klimaschutzgesetz vor dem Deutschen Bundestag am 24. Juni 2021 in Berlin, Hervorhebung durch den Verfasser
[5] Deutscher Bundestag, Bundestag verschärft das Klimaschutzgesetz
[6] Germanwatch vom 29.11.2022

Mittlerweile wurde bei Bündnis 90/Die Grünen das Ergebnis des
Koalitionsausschusses [PDF-Datei mit 210 KB] veröffentlicht.