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30. März 2023, von Michael Schöfer
Es ist schon ein Kreuz mit dem Großkreuz


Der Mensch ist ein soziales Wesen, aber zugleich auch ein geltungsbedürftiges. Will heißen: Prestige ist ihm heilig, und deshalb steht er auf der Rangliste gerne über den anderen, nicht unter ihnen. Die hinlänglich bekannte und häufig karikierte Proll-Variante des Geltungsbedürfnisses lautet: "Mein Haus, mein Auto, mein Boot." Wobei sich vergleichsweise arme Prolls notgedrungen darauf beschränken müssen, mit dem geliehenen Maserati laut dröhnend durch die Innenstadt zu fahren - immer in der Hoffnung, wenigstens mithilfe von 128 Dezibel kurz aus der anonymen Masse herauszuragen. Was Auto-Poser machen, wenn es dereinst nur noch Elektroautos gibt, steht allerdings in den Sternen. Ich fürchte, dieses gravierende Problem hat bislang bei der EU in Brüssel kaum die ihm gebührende Beachtung gefunden.

Die Kleinbürger-Variante des Geltungsbedürfnisses sind Urkunden: 25- oder 40-jähriges Dienstjubiläum, 25- oder 40-jährige Vereinszugehörigkeit, 25- oder 40-jährige Mitgliedschaft in einer demokratischen Gewerkschaft etc. Beliebt sind auch Titel wie "Ehrenmitglied" oder "Ehrenvorsitzender". Übrigens fast genauso beliebt wie "Zahnarztfrau" oder das respektvolle "Frau Doktor", für Letzteres ist nicht einmal eine Dissertation (hilfsweise ein Plagiat) notwendig, ein läppisches Ja-Wort auf dem Standesamt genügt vollauf. Wobei man nicht verschweigen sollte, dass hierfür ein Mindestmaß an persönlichem Engagement vorausgesetzt wird: sich tatsächlich 25 oder 40 Jahre im Büro langweilen, tatsächlich 25 oder 40 Jahre brav Beiträge überweisen, tatsächlich im Vorstand des Kleintierzüchtervereins weltbewegende Entscheidungen treffen, tatsächlich mit dem Zahnarzt jahrelang Tisch und Bett… Ach, lassen wir das.

Urkunden kosten lediglich das Urkundenpapier und ein bisschen Druckertinte. Wer es mag, kann sie sich dann eingerahmt an die Wand hängen und versuchen, damit die Enkel zu beeindrucken. Ein Versuch, der leider allzu oft fehlschlägt, weil sich deren Begeisterung in engen Grenzen hält. Insbesondere bei der Generation Z, der böswillig nachsagt wird, sie habe andere Ziele, als sich 40 Jahre lang den Buckel krumm zu arbeiten und anschließend mit einem Fetzen Papier abspeisen zu lassen. Nicht einmal die Aussicht auf eine Rente knapp über der Armutsgrenze kann sie vom Gegenteil überzeugen. Wobei angeblich schon Sokrates und Aristoteles über die undankbare Jugend gelästert haben. Wohlgemerkt, über die damalige, nicht die heutige. Andererseits ist das beinahe das Gleiche.

"Mein Haus, mein Auto, mein Boot", kann man sich kaufen, was Parvenüs von jeher zu schätzen wussten und bei Partys die Gäste höchstpersönlich zum Badezimmer mit den vergoldeten Armaturen begleiteten. Man mache sich ja eigentlich nichts daraus, aber die Klospülung funktioniere trotz Goldauflage superb, der Gast dürfe es gleich selbst ausprobieren. Natürlich erst, nachdem er den Whirlpool mit Platz für vier Personen (he-he-he!) ausreichend gewürdigt hat. Isser nicht schön? Obendrein muss man, selbstverständlich ganz im Vertrauen, gestehen: gar nicht so teuer, wie ursprünglich angenommen. Besonders anspruchsvolle Parvenüs heiraten in den Adel ein oder lassen sich von ihm adoptieren. Ein blaublütiges "von und zu" hat halt nicht jeder.

Orden muss man sich hingegen verdienen, jedenfalls versucht man das dem gemeinen Volk einzureden, anders wäre es ja auch kaum von dem vielen Blech eingeschüchtert, das beispielsweise nordkoreanische Generäle für gewöhnlich auf der Brust tragen. Jedenfalls solange, bis sie bei Kim Jong Un in Ungnade fallen und mit dem Flakgeschütz hingerichtet werden. Auch Stasi-Chef Erich Mielke hatte bekanntlich ein Faible für Orden und Ehrenzeichen, die Liste ist ellenlang. Hat schon ein paar Vorteile, wenn man einem autoritären Regime angehört, das sich gegenseitig bekränzt. Auf Vorschlag des Ministers für Staatssicherheit verleihe ich dem Genossen Mielke...

Jetzt von Handlangern der Diktatoren auf Charles III. und Angela Merkel zu kommen, ist zugegebenermaßen äußerst diffizil, schließlich wird man bei solchen abrupten Überleitungen des Öfteren furchtbar missverstanden. Nicht jeder besitzt wie Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) das zweite juristische Staatsexamen, um sich notfalls vor Gericht kostengünstig selbst verteidigen zu können, wenn er - horribile dictu - Robert Habeck mit Wladimir Putin vergleicht. Natürlich haben Charles Philip Arthur George Mountbatten-Windsor und Angela Dorothea Merkel, geb. Kasner, nichts mit Kim Jong Uns Generälen oder Erich Mielke gemein - ausgenommen vielleicht eine klitzekleine Vorliebe für Orden und Ehrenzeichen. Ob Charles III. beim Staatsbankett ohne seine ordensgeschmückte Brust übersehen worden wäre? Kaum anzunehmen, aber offenbar scheint es auch in Demokratien nicht auszureichen, mit dem goldenen Löffel im Mund geboren zu werden und später qua Geburt Staatsoberhaupt spielen zu dürfen.

Angela Merkel, soll demnächst das Großkreuz des Bundesverdienstordens verliehen bekommen, lesen wir. Ob sie sich etwas daraus macht? Sie wurde ja 1954 in Hamburg geboren, und in der Hansestadt ist es traditionell verpönt, sich auszeichnen zu lassen und Orden zu tragen. Ehedem war den führenden Repräsentanten der Stadt sogar die Annahme und das Tragen von Orden verboten, diese Praxis lässt sich bis ins 13. Jahrhundert zurückführen. "Die Tatsache, dass die 'äußerlich sichtbaren Ordens-Insignien den Dekorierten vor seinen Kollegen und Mitbürgern als einen vorzüglicheren auszeichnen sollen', galt schon damals als ein Umstand, der in entschiedenem Widerspruch zum bürgerlichen Geiste der Verfassung stehe." (Wikipedia) Wer sich als Hanseat von seinen Mitbürgern abheben will, muss bloß wie weiland Helmut Schmidt trotz striktem Rauchverbot demonstrativ zur Mentholzigarette greifen. Merkel ist allerdings in der DDR aufgewachsen, lebt inzwischen in Berlin und ist - soweit bekannt - Nichtraucherin.

Annehmen oder nicht annehmen, das ist hier die Frage. Ja, es ist schon ein Kreuz mit dem Großkreuz. Was ehrlich gesagt verwundert, ist, dass sich selbst hochgestellte Persönlichkeiten und intelligente Menschen nicht dem zweifelhaften Charme eines Stücks Blech entziehen können. Eigentlich dürften sie sich nichts daraus machen. Aber wie eingangs erwähnt, der Mensch ist ein geltungsbedürftiges Wesen. Sogar dann, wenn er sich - wie Angela Merkel - schon längst in den Geschichtsbüchern verewigt hat.