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30. März 2023, von Michael Schöfer
Kuriose Gemengelage


Wer in der Politik Fairness, Ehrlichkeit und Rücksichtnahme erwartet, sollte besser einen Philosophiekurs bei der Volkshochschule belegen, denn dort geht es bestimmt gesitteter zu. Die Politik ist ein knallhartes Gewerbe, bei dem man nicht allzu viel Menschlichkeit erwarten darf. Und Freundschaften schon gar nicht, weder von Personen noch von Parteien. In der Politik geht es vielmehr darum, bei Wahlen möglichst viele Stimmen zu bekommen, um Interessen durchzusetzen. Und bei diesen Interessen geht es beileibe nicht immer nur um die der eigenen Wähler, wie wir bereits häufiger miterleben mussten.

Was sich momentan in der Bundespolitik tut, ist insofern durchaus üblich, wenn auch zugegebenermaßen höchst unerquicklich. Dachte man bei den Koalitionsverhandlungen noch, der Schwanz (Grüne, FDP) wedle mit dem Hund (SPD), erinnert sei bloß an das berühmte Vierer-Selfie, hat sich die Zusammenarbeit zwischen den Koalitionsparteien mittlerweile grundlegend geändert. Es steht nun häufiger 2:1, d.h. Rot-Gelb gegen Grün. Was den Klimaschutz angeht, stehen die Grünen nicht selten auf verlorenem Posten. Geneigte Beobachter hatten ja von vornherein erwartet, dass es gegen Christian Lindner (FDP) schwer sein würde, Fortschritte beim Klimaschutz zu erzielen, dass es aber neuerdings dank Olaf Scholz (SPD) sogar Rückschritte gibt, überrascht dann doch.

Die kuriose Gemengelage ist offen gesagt ziemlich verwirrend. Dröseln wir das Ganze mal ein bisschen auf:

Das Klimaschutzgesetz haben wir in seiner heutigen Form vor allem der früheren Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) zu verdanken, die es in der Großen Koalition gegen den hartnäckigen Widerstand der Union durchgesetzt hat. Kernstück dabei waren die strengeren Treibhausgas-Vorgaben für einzelne Wirtschaftssektoren (Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft, Abfallwirtschaft und Sonstiges). "...dies hatte in der Union heftige Proteste ausgelöst. Auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte den auf Sektoren fokussierten Weg kritisiert…" [1] "Das Klimaschutzgesetz, mit dem SPD-Umweltministerin Svenja Schulze die Ziele für die einzelnen Sektoren verbindlich festschreiben will, wird von der Union blockiert." [2]

Die FDP war schon in ihrer Oppositionszeit dagegen und hat sich damit jetzt auch in der Ampelregierung durchgesetzt, das Klimaschutzgesetz wird aufgeweicht und fällt hinter den Stand der Großen Koalition zurück. Reichlich unkonkret ist nun von einer "sektorübergreifenden und mehrjährigen Gesamtrechnung" sowie einem "jährlichen Monitoring" die Rede. Auf welch wundersame Weise dieser Rückschritt die Einhaltung der Klimaziele (Treibhausgasneutralität bis 2045) verbessern soll, bleibt das Geheimnis der Koalitionäre.

Kuriosum 1: Die Union, die - siehe oben - während der Großen Koalition detaillierte Vorgaben für einzelne Wirtschaftssektoren noch erbittert bekämpft hat, verteidigt diese nun gegen einen Kanzler, dessen Partei sie 2019 durchgesetzt hat, jetzt aber davon wieder abweicht und somit auf die ursprüngliche Position der Union zurückfällt. Der Deutsche Bundestag berichtet von der Aktuellen Stunde (Befragung der Bundesregierung): "Andreas Jung (CDU/CSU) fragte den Kanzler, wie er verantworten wolle, das noch zu Zeiten der Großen Koalition beschlossene Klimaschutzgesetz aufzuweichen." Der Kanzler wirft mit wohlklingenden Worten Nebelkerzen: "Scholz entgegnete, das Gesetz werde jetzt weiterentwickelt. Die Zielerreichung werde jedes Jahr überprüft. Der 'Idee von linearen Fortschreibungen' erteilte er eine Absage, erforderlich sei vielmehr 'Dynamik'." [3] Nein, das muss man nicht wirklich verstehen.

Kuriosum 2: "Wenn Politik die Kunst des Möglichen ist, dann waren Sie wirklich keine Künstler", ätzte Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen) Mitte 2021 bei der Novellierung des Klimaschutzgesetzes in Richtung Große Koalition. [4] Die schwarz-rote Bundesregierung habe ihre Chance nicht genutzt. Doch jetzt verteidigt seine Partei das Ergebnis des Koalitionsausschusses, dessen Inhalte weit hinter den damals als unzureichend bezeichneten Stand zurückfallen. Auch das muss man nicht wirklich verstehen.

Kuriosum 3: Svenja Schulze (SPD) verhehlte 2021 bei der Verschärfung des Klimaschutzgesetzes als verantwortliche Ministerin nicht, "dass sie sich noch mehr gewünscht hätte". [5] Ihr muss jetzt das Herz bluten, weil der Kanzler, dessen Kabinett sie heute als Bundesentwicklungsministerin angehört, genau die Position einnimmt, an der sie sich damals als Bundesumweltministerin lange abgearbeitet hat. Dabei machte Olaf Scholz im Wahlkampf sogar mit dem Klimaschutzgesetz Wahlwerbung: "Keine andere Partei hat in Regierungsverantwortung so viel für den Klimaschutz getan wie die SPD. Das Klimaschutzgesetz trägt unsere Handschrift - wir haben es durchgesetzt gegen die Blockierer in CDU und CSU. Es beschreibt das Ziel, bis 2045 klimaneutral zu wirtschaften, und auch die Etappen zu diesem Ziel." [6] Vom "Kanzler für Klimaschutz" ist nun nichts mehr zu spüren, denn im Augenblick räumt er die Etappen zu diesem Ziel in einer Marathonsitzung kurzerhand wieder ab. Und das kann man beim besten Willen nicht verstehen.

Überblick: Detaillierte Treibhausgas-Vorgaben für einzelne Wirtschaftssektoren

CDU/CSU SPD FDP Grüne
2019

noch strengere Vorgaben
2021


noch strengere Vorgaben
2023


sind am
Verzweifeln

Politik muss man nicht verstehen, man muss sie aushalten - selbst wenn es schwerfällt. Gleichwohl fragt man sich, wer da welches Ziel verfolgt. Will die SPD klarmachen, wer in der Koalition Koch und wer Kellner ist? Will sie die Grünen gar wegpusten? Verspricht sich die FDP ohne die Grünen eine andere Machtperspektive? Für eine Neuauflage von Schwarz-Gelb werden die Mehrheiten vermutlich kaum ausreichen. Und mit solchen Machtspielchen tendiert die Motivation der Grünen, irgendwann gemeinsam mit der FDP in eine Jamaika-Koalition (Schwarz, Gelb, Grün) einzutreten, sicherlich gegen null. Also doch wieder eine Große Koalition? Was hätte die FDP davon? Oder vielleicht das auf Bundesebene noch nie dagewesene Experiment einer Deutschland-Koalition (Schwarz, Rot, Gelb)? Als Unbeteiligter kann man darüber nur spekulieren. Hoffentlich verspekulieren sich die Beteiligten nicht, denn der Frust beim Wahlvolk wird immer größer. Stimmt, da war noch was, etwa eine die Menschen zur Verzweiflung treibende Wohnungsnot.

Wie dem auch sei, jedenfalls sollten sich die Grünen nicht wie eine Heulsuse aufführen, sondern kernig dagegenhalten. Die Geduld der Grünen-Wähler ist nicht unendlich. Man darf ruhig einmal mit dem Ende der Koalition drohen, denn Politik ist bekanntlich kein Ponyhof. Und definitiv auch kein Bullerbü.

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[1] Reuters vom 10.04.2019
[2] taz.de vom 03.06.2019
[3] Deutscher Bundestag, Texte (2017-2023), Olaf Scholz: Unser Land braucht mehr Tempo
[4] Deutscher Bundestag, Texte (2017-2023), Bundestag verschärft das Klimaschutzgesetz
[5] Deutscher Bundestag, Texte (2017-2023), Bundestag verschärft das Klimaschutzgesetz
[6] Website von Olaf Scholz vom 10.08.2021