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02. April 2023, von Michael Schöfer
Nicht selbst zur atomaren Eskalation beitragen


Es war Anfang der achtziger Jahre richtig, sich gegen die destabilisierende Wirkung der sogenannten Nato-Nachrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen zu wehren. Dies wird auch nachträglich nicht dadurch falsch, weil heute in Moskau ein Kriegsverbrecher regiert. Bei einer Flugzeit von fünf Minuten in die damalige westliche Sowjetunion hätte die Pershing II gerade in einer Krisensituation ein enormes Risiko dargestellt (ob sie Moskau erreichen konnte und damit zu einem Enthauptungsschlag fähig gewesen wäre, ist nach wie vor umstritten).

Generell gilt: Je geringer die Vorwarnzeit, desto stärker steigt die Gefahr von fatalen Irrtümern und krassen Fehlentscheidungen. Irrtümer und Fehlentscheidungen, die nicht mehr korrigiert werden können. Aus der Sicht Moskaus bedeutete die Stationierung der Pershing II eine ebenso große Bedrohung, wie es aus der Sicht Washingtons eine erneute sowjetische Raketenstationierung auf Kuba gewesen wäre. Und die Kuba-Krise von 1962 haben wir ja noch gut in Erinnerung, in jenen Tagen ist die Menschheit haarscharf am Atomkrieg vorbeigeschrammt. Es war also für die Stabilität der nuklearen Abschreckung äußerst hilfreich, dass landgestützte Mittelstreckenraketen mit dem INF-Vertrag gleich ganz eliminiert wurden. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie instabil die Lage nach Beginn des russischen Angriffskriegs wäre, stünden diese Waffen heute noch in Mitteleuropa.

Wladimir Putin und seine Komplizen drohen gerne mit dem Atomwaffeneinsatz, allerdings hätten sie dadurch nichts zu gewinnen, würden vielmehr bloß den eigenen Untergang provozieren. Wenn sie nicht vollkommen verrückt sind, bleibt es bei den Drohungen (obgleich schon allein die eine Ungeheuerlichkeit darstellen). Auch wenn Russland gegen die Nato-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997 verstoßen hat (u.a. Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt; Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten) sollten wir besonnen reagieren und uns selbst nach wie vor an bestimmte Abmachungen halten. Vor allem an die, die Atomwaffen betreffen.

In der Nato-Russland-Grundakte heißt es in Abschnitt IV (Politisch-Militärische Angelegenheiten): "Die Mitgliedstaaten der NATO wiederholen, dass sie nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass haben, nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren, noch die Notwendigkeit sehen, das Nukleardispositiv oder die Nuklearpolitik der NATO in irgendeinem Punkt zu verändern - und dazu auch in Zukunft keinerlei Notwendigkeit sehen. Dies schließt die Tatsache ein, dass die NATO entschieden hat, sie habe nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass, nukleare Waffenlager im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten einzurichten, sei es durch den Bau neuer oder die Anpassung bestehender Nuklearlagerstätten. Als nukleare Waffenlager gelten Einrichtungen, die eigens für die Stationierung von Nuklearwaffen vorgesehen sind; sie umfassen alle Typen gehärteter ober- oder unterirdischer Einrichtungen (Lagerbunker oder -gewölbe), die für die Lagerung von Nuklearwaffen bestimmt sind."

Da sich die Nato erstmals 1999 nach Osten erweitert hat, schließt dieser Passus die Stationierung von Atomwaffen in den nach 1997 hinzugekommenen Ländern aus (Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Albanien, Kroatien, Montenegro, Nordmazedonien). Nach ihrem Beitritt müsste das auch für Finnland und Schweden gelten. Und gemäß Artikel 5 Abs. 3 des Zwei-plus-Vier-Vertrags wurde das Gleiche für das Gebiet der ehemaligen DDR vereinbart: "Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt." In Artikel 3 Abs. 1 verpflichtete sich Deutschland obendrein zum Verzicht auf ABC-Waffen.

Polen hat soeben die Absicht bekundet, sich stärker an der nuklearen Abschreckung zu beteiligen, allerdings ohne dies näher zu konkretisieren. [1] Es wird anscheinend innerhalb der Nato durchaus darüber nachgedacht. Aber es wäre töricht, westliche Atomwaffen näher an Russland heranzurücken, weil dies dem Öffnen der Büchse der Pandora gleichkäme (trotz des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und der bereits angekündigten Stationierung von atomaren Gefechtsfeldwaffen in Belarus). Erstens weil es dadurch unsererseits zu einem Vertragsbruch käme. Zweitens, und das ist viel wichtiger, weil die Stationierung die atomare Abschreckung gefährlich destabilisieren würde. Warschau ist von Moskau in Luftlinie gerade mal 1.150 km entfernt, je nach Waffentyp (der INF-Vertrag wurde bekanntlich 2019 von Donald Trump außer Kraft gesetzt) kann dies die Vorwarnzeit auf wenige Minuten verringern.

Wie bedeutsam ausreichende Vorwarnzeiten sind, belegt folgender Vorfall aus dem Jahr 1983: Am 26. September um 0:15 Uhr Moskauer Zeit löste das sowjetische Frühwarnsystem Alarm aus, es zeigte den Start von mehreren Atomraketen in den USA an. Doch der diensthabende sowjetische Offizier, Oberstleutnant Stanislaw Petrow, war skeptisch und ging von einem Fehlalarm aus, was er auch an seine Vorgesetzten meldete. Die Vorwarnzeit für in Amerika abgeschossene Interkontinentalraketen beträgt ungefähr 30 Minuten, erst nach 17 Minuten wurde endgültig klar, dass Petrow recht hatte und das Satellitenfrühwarnsystem falsch lag. Petrow bewahrte damals die Welt vor der nuklearen Apokalypse, denn die wäre unweigerlich eingetreten, hätte die UdSSR nach dem Grundsatz "use them or lose them" ohne zu zögern die eigenen Atomraketen abgeschossen. 17 Minuten Unklarheit, vermutlich die längsten Minuten in Petrows Leben.

Russische Militärs hätten jedoch bei Fehlalarmen gar keine Zeit, vermeintlich aus Polen oder anderen grenznahen Nato-Staaten anfliegende Mittelstreckenraketen zu überprüfen. Man kann sich daher nicht darauf verlassen, dass der diensthabende Offizier genauso besonnen handelt wie seinerzeit Stanislaw Petrow, insbesondere wenn - wie jetzt - in Kriegszeiten die Lage extrem angespannt ist und die russische Führung subjektiv einen Enthauptungsschlag befürchtet (Angriff auf die politischen und militärischen Führungsstrukturen, um deren Fähigkeit zum Gegenschlag auszuschalten). Insofern sollten wir uns hüten, selbst irgendetwas zur atomaren Eskalation beizutragen.

Für das dichtbesiedelte Europa wäre jeder Atomwaffeneinsatz verheerend. Wenn die nukleare Schwelle erst einmal überschritten ist, droht anschließend die rasche Eskalation zum globalen Atomkrieg, der Ersteinsatz wäre daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Anfang vom Ende der Menschheit. Es ist nämlich höchst ungewiss, ob man das Ganze in einer solch prekären Situation überhaupt noch kontrollieren kann. Dies gilt wohlgemerkt für beide Seiten, und hoffentlich ist das allen Beteiligten klar. Die Stationierung von Atomwaffen in Polen oder anderen östlichen Nato-Mitgliedstaaten wäre somit kontraproduktiv, weil sie die Sicherheit verringert anstatt zu erhöhen. Also Finger weg davon. Wir müssen darauf bauen, Russland im Verteidigungsfall konventionell abzuwehren (die Ukraine exerziert uns das momentan in geradezu bewunderungswürdiger Art und Weise vor). Und darauf vertrauen, dass Wladimir Putin zumindest so viel Verstand besitzt, seine Atomwaffen niemals als Erster einzusetzen.

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[1] Handelsblatt vom 02.04.2023