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07. April 2023, von Michael Schöfer
Tanzverbot am Karfreitag ist ein Anachronismus


Was ist wahr, was ist Fiktion? Ist die Erde eine Kugel? Zweifellos, dennoch behaupten heute einige ungeachtet aller gegenteiligen Beweise noch immer, sie sei eine Scheibe. Und angeblich soll die Zahl der Flath-Earther sogar wachsen. In gewisser Hinsicht leben wir tatsächlich in verrückten Zeiten. Was Menschen als wahr bezeichnen, hängt nicht unbedingt von den objektiven Tatsachen ab, sondern ist oft abhängig davon, was die Mehrheit subjektiv für wahr hält. Die Mehrheit kann sich bekanntlich auch auf eine Lüge einigen und sie im Brustton der Überzeugung als unumstößliche Wahrheit präsentieren. Viel leichter als auf dem Gebiet der Naturwissenschaft gelingt dies auf gesellschaftlicher Ebene.

Zuweilen schafft es die Fiktion, eine Realität überhaupt erst zu erzeugen. Der Alltag ist wohl selbst für die meisten Mafiosi ernüchternd, und wie man gelegentlich liest, würden viele gerne so sein wie Vito Corleone im Film "Der Pate" von Francis Ford Coppola. Die echten Mafiosi sollen Sprache, Kleidung und Gesten der falschen Film-Mafiosi nachahmen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass man nach der Verhaftung des Cosa Nostra-Paten Matteo Messina Denaro in dessen Haus ein Poster des Film-Paten (dargestellt von Marlon Brando) entdeckte. Gewiss, die Mafia gab es schon lange vor 1972 (in jenem Jahr kam der Film in die Kinos), aber durch die offenbar zugkräftige Darstellung scheint die Mafia-Fiktion zumindest zum Teil die Mafia-Realität zu beeinflussen. Wer formt hier wen? Die Mafia hat Mario Puzo, den Autor der literarischen Vorlage, inspiriert. Und die künstlerische Ausgestaltung des Films inspiriert wiederum die Mafia.

Noch drastischer geschieht das auf dem Gebiet der Religionen. Ich schreibe diesen Text an einem Karfreitag, und in vielen Bundesländern dürfen an diesem Tag keine öffentlichen Tanzveranstaltungen stattfinden. Dabei ist die Existenz von Jesus nicht einmal historisch verbürgt, damit steht logischerweise auch seine Kreuzigung (der Anlass für die verordnete Karfreitagsruhe) auf tönernen Füßen. Gleichwohl liest man auf Wikipedia: "Die Kreuzigung Jesu von Nazaret steht im Zentrum des Neuen Testaments (NT) und der christlichen Botschaft. Sie gilt als gesicherte Tatsache, da sie auch in frühen außerbiblischen Dokumenten belegt ist. Ihre historischen Ursachen sind jedoch umstritten." (Hervorhebung von mir) Wer allerdings nach den angeblich existierenden Belegen fragt, die die Einstufung der Kreuzigung als "gesicherte Tatsache" rechtfertigen, wird dort entgegen den Wikipedia-Regeln rüde abgewiesen. [1] Auch in diesem Fall gelangt man am Ende zu der Frage: Wer kreiert hier was? Ist wahr, was auf Wikipedia steht, oder ist wahr, was wirklich passiert ist? Warum darf man am Karfreitag nicht tanzen, wenn doch das Fundament der Religion sehr wahrscheinlich bloß ein orientalisches Märchen und eben keine nachprüfbare Tatsache ist?

Könnte die Gesellschaft mehrheitlich auch beschließen, dass die Erde eine Scheibe ist? Könnte der Gesetzgeber das Tanzen dann ganz verbieten, weil nach Ansicht selbsternannter Wikipedia-Experten die rhythmischen Tanzbewegungen die Erdscheibe aus dem Gleichgewicht zu bringen drohen? Klingt natürlich völlig absurd, aber strenggenommen verhält es sich mit den von oben verordneten Verhaltensregeln auf der Grundlage einer religiösen Legende genauso. Dass sich die Realität nach irgendwelchen obskuren Glaubensinhalten zu richten hat und nicht umgekehrt, ist eigentlich schon grotesk genug. Zum Ärgernis wird das Ganze, weil heute in Deutschland nur noch 19,2 Millionen Menschen (Stand 31.12.2022) der evangelischen und 21,6 Millionen (Stand 31.12.2021) der römisch-katholischen Kirche angehören. Tendenz: stark sinkend. Gemessen an der amtlichen Einwohnerzahl von 84,3 Millionen sind das lediglich 48,4 Prozent, mithin weniger als die Hälfte.

Und wie viele davon sind bloß nominell Kirchenmitglied, sogenannte Taufscheinchristen? Befragungen zufolge finden sich sogar unter den Kirchenmitgliedern überraschend viele Atheisten. Hierzulande sollen rund 38 Prozent der Bevölkerung Atheisten sein. [2] Abhängig von der Differenziertheit der Umfrage können dabei auch andere Ergebnisse herausspringen, so bezeichnen sich etwa laut einer You-Gov-Umfrage satte 55 Prozent der Deutschen als nicht gläubig und wären damit eindeutig die Bevölkerungsmehrheit. [3] Aktive Christen sind zweifelsohne eine Minderheit, so gab es beispielsweise im Vor-Corona-Jahr 2019 bei den Katholiken im Schnitt gut 2 Millionen Gottesdienstbesucher. [4]

Wie dem auch sei, die Zeit, in der man sich unfreiwillig an religiöse Vorschriften zu halten hat, müsste jedenfalls endgültig vorbei sein. Allgemeingültige Regeln stehen in der Verfassung oder im Strafgesetzbuch - und die sind sowohl für Gläubige als auch für Gottlose verbindlich. Jeder Mensch kann an Karfreitag trauern und aufs Tanzen verzichten, aber er sollte es nicht müssen, weil ihm der Staat ein bestimmtes Verhalten untersagt. Das ist nämlich eine individuelle Entscheidung, die man anderen nicht oktroyieren darf. Der Staat muss in weltanschaulichen Dingen strikt neutral sein. So gesehen ist ein religiös begründetes Tanzverbot meiner Meinung nach anachronistisch (selbst wenn es das Bundesverfassungsgericht anders sieht).

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[1] siehe Wikipedia und die Hüter der Wahrheit vom 27.04.2018
[3] Statista, 38 Prozent der Deutschen sind gläubig
[4] Statista, Durchschnittliche Anzahl der katholischen Gottesdienstbesucher in Deutschland von 1950 bis 2021