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09. April 2023, von Michael Schöfer
Komplettversager


In Berlin-Charlottenburg wurde kürzlich eine 3-Zimmer-Wohnung (74 qm, 1074 € Warmmiete) angeboten, bei der schlussendlich abgebrochenen Besichtigung von Wohnungssuchenden gab es eine Menschenschlange von 150 Metern. [1] Eine absolut unwürdige Situation, doch die Not ist groß: Eine Stunde nach Veröffentlichung des Inserats gab es bereits 600 Anfragen. Was sich mittlerweile auf dem Wohnungsmarkt tut, ist der blanke Horror. Und die Politiker, man muss es leider so drastisch formulieren, sind diesbezüglich Komplettversager.

Die Wohnungsnot und die damit einhergehende drastische Steigerung der Mieten in den Ballungsräumen gibt es nun schon seit mindestens 20 Jahren, aber die Situation wird von Jahr zu Jahr schlimmer - ohne dass etwas Substanzielles dagegen getan wird. Angesichts dessen kann ich den phlegmatischen und häufig süffisant grinsenden Bundeskanzler kaum noch ertragen. Man sehnt sich förmlich nach einer Gelbwestenbewegung wie in Frankreich, damit sich vielleicht doch einmal etwas zum Besseren ändert. Alle anderen Wege scheinen ja zu scheitern. Die Geduld der Menschen ist jedenfalls erstaunlich.

Rentner, Gering- oder Durchschnittsverdiener haben kaum noch Chancen auf eine angemessene Wohnung, bislang will aus unterschiedlichen Gründen kein Rezept wirklich greifen:
  • Mietpreisbremse? Weitgehend unwirksam.
  • Berliner Mietendeckel? Verfassungswidrig, weil in die Kompetenz des Bundes fallend, der aber durch Untätigkeit glänzt.
  • Anzahl der fertiggestellten Wohnungen? Auf anhaltend niedrigem Niveau, Tendenz fallend.
  • Sozialer Wohnungsbau? Ein einziges Trauerspiel.
  • Enteignungen? Nicht gewollt, obwohl laut Grundgesetz zulässig. Sozialismusverdacht!
  • Mietbelastungsquote (Anteil der Bruttokaltmiete am Haushaltsnettoeinkommen)? Bei 3,1 Mio. Haushalten höher als 40 Prozent.
  • Bezug von Neubauwohnungen? Offenbar nur noch für Besserverdienende.
  • Kauf von Wohneigentum? Anscheinend bloß noch für Millionäre.
Und dann muss man ebenso unpraktikable wie unsoziale Vorschläge des Professors einer Immobilienakademie lesen. Ältere leben oft zu vergleichsweise günstigen Konditionen in großen Wohnungen, während junge Familien unter beengten Lebensverhältnissen leiden, der Wohnungstausch scheitert aber in der Regel an den hohen Neuvertragsmieten. Logisch, warum sollte etwa eine Rentnerin aus ihrer gerade noch erschwinglichen 4-Zimmer-Wohnung ausziehen, wenn sie in einer 2-Zimmer-Wohnung deutlich mehr Miete zahlen müsste? Die Realität auf dem Wohnungsmarkt ist nämlich: kleiner heißt heutzutage nur noch selten billiger. Der perfide Vorschlag des Immobilienwissenschaftlers lautet: Älteren einfach eine Mieterhöhung von 15 oder 20 Prozent aufdrücken, damit sie aus finanziellen Gründen gezwungen sind, ihre bisherige Wohnung zu verlassen. [2]

Wow! Super! Solche Vorschläge mögen wohl mit dem Rechenschieber in BWL-Seminaren funktionieren, aber diese kaltherzige Empathielosigkeit passt nicht zu einer sozialen Gesellschaft. Bezahlbarer Wohnraum ist ein Grundbedürfnis und gehört zu den Menschenrechten. Wenn mir ein Auto zu teuer ist, kann ich auch Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen. Hier walten die Marktkräfte von Angebot und Nachfrage. Aber wenn ich mir keine Wohnung leisten kann, weil das mein Einkommen/meine Rente nicht zulässt, kann ich mich nicht kurzerhand dazu entschließen, künftig auf der Straße zu leben und unter den Brücken zu schlafen. Zumindest nicht, ohne dabei zugrundezugehen. Oder wie hat sich das der Herr Professor genau vorgestellt?

Wer bei Älteren gezielt die Mietbelastungsquote erhöhen will, um sie aus ihrer angestammten Wohnung zu vertreiben, hat bei seiner inhumanen Kalkulation offenbar übersehen, dass sie trotzdem irgendwo von irgendwas leben müssen. Um das Problem einmal auf den Punkt zu bringen: In München ist die ortsübliche Vergleichsmiete allein in den letzten zwei Jahren um horrende 21 Prozent gestiegen (ganz offiziell laut Mietspiegel) [3], bei solchen Verhältnissen plant keiner freiwillig einen Wohnungstausch, solange sein Vermieter ihm noch halbwegs gnädig ist. Wer dennoch die Menschen dazu zwingen will, ist an sozialer Kälte kaum zu überbieten.

Leider lassen die Politiker die Menschen beim Thema Wohnungsnot seit langem total im Regen stehen. Sie tun einfach nichts, oder wenigstens nicht genug. Warum, schließlich sind das die von uns gewählten Frauen und Männer? Liegt es daran, weil - so meine Vermutung - Politiker meist keine Mieter, sondern Eigentümer sind? Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) soll sich Presseberichten zufolge im vergangenen Jahr im noblen Berliner Süden ein Haus gekauft haben - angeblich für schlappe 1,65 Millionen Euro. [4] Etliche Millionen hat auch die inzwischen wieder für 5,3 Millionen Euro verkaufte Villa von Jens Spahn (CDU) gekostet. [5] Bekanntlich bestimmt das Sein das Bewusstsein! (Karl Marx)

Fehlt es also unseren Repräsentanten an Einfühlungsvermögen in die Problemlage von weniger auf Rosen gebetteten Mietern? Anscheinend. Oder ist es - wie so oft - knallharte Interessenpolitik und der schädliche Einfluss der Lobbyisten? Wie auch immer, doch wenn das so weitergeht, sehe ich viele Wutbürger auf uns zukommen, weil die Gesellschaft immer stärker auseinanderdriftet. Kann man wollen bzw. - wie unser Kanzler - phlegmatisch hinnehmen, aber dann braucht man sich über die schlimmen Folgen wirklich nicht zu wundern.

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[1] Tagesspiegel vom 04.04.2023
[2] Frankfurter Rundschau vom 08.04.2023
[3] muenchen.de vom 16.03.2023
[4] Berliner Zeitung vom 08.01.2023
[5] t-online vom 16.02.2023