Home
| Archiv | Leserbriefe
| Impressum 10. April 2023, von Michael Schöfer Fehlkalkulationen und Rechtfertigungen Im Nachhinein ist man bekanntlich schlauer, dennoch überrascht es immer wieder aufs Neue, wie sehr sich Staatenlenker bei ihren Kriegszügen verkalkulieren. Offenbar machen aggressive Absichten und ideologische Motive blind gegenüber berechtigten Einwänden, die dann bei der Planung leichtfertig beiseite gewischt werden und keine Berücksichtigung finden. "Ihr werdet wieder zu Hause sein, ehe noch das Laub von den Bäumen fällt", gab der deutsche Kaiser seinen Truppen mit auf den Weg, als er sie Anfang August 1914 in den Krieg gegen Frankreich schickte. [1] Ob die Menschen tatsächlich kriegsbegeistert waren, ist umstritten. Der Erste Weltkrieg endete jedenfalls erst im November 1918, nach einem langen, grausamen und verlustreichen Ringen in den Schützengräben, der alle Beteiligten entkräftete. Auch in Russland ging man 1914 von einem kurzen und selbstverständlich erfolgreichen Krieg aus. "Ein Offizier der kaiserlichen Garde fragte den Leibarzt des Zaren, was er wohl meine: solle er seine Paradeuniform für den Einzug in Berlin gleich einpacken oder sie sich vom nächsten Kurier an die Front bringen lassen?" [2] Beim Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 sollen russische Offiziere ebenfalls schon ihre Paradeuniformen für die bevorstehende Siegesfeier in Kiew dabeigehabt haben. Auf Befehl von oben, wie es heißt. Doch Wladimir Putin hat sich genauso schwer verkalkuliert wie viele andere vor ihm, der beabsichtigte Blitzkrieg dauert nämlich noch immer an. Hitler glaubte 1941, die Sowjetunion wie gewohnt in einem Blitzkrieg besiegen zu können. Und hätte die UdSSR 1979 gewusst, dass ihr in Afghanistan ein zehn Jahre dauernder und zermürbender Guerillakrieg bevorsteht, wäre die Sowjetarmee womöglich nie einmarschiert. Ebenso wenig wie die USA, die dort nach 20 Jahren sieglos abziehen mussten. Selbst die Kriegsgründe und Rechtfertigungen ähneln sich. Vor dem Einmarsch in die CSSR und der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968 wollte Moskau angeblich einen Hilferuf des tschechoslowakischen Brudervolks vernommen haben. Hitler gab bei der von ihm beabsichtigten Zerschlagung der Tschechoslowakei vor, bloß die Interessen der deutschsprachigen Minderheit zu vertreten (die Sudetendeutschen, die aber Bürger der Tschechoslowakei waren). Putins von langer Hand vorbereitete Annexion von Gebieten in der Süd- und Ostukraine erfolgte selbstredend im Interesse der russischsprachigen Minderheit (die aber Bürger der Ukraine sind). Der fingierte Überfall auf den Sender Gleiwitz durch polnische Staatsbürger war offizielle Begründung für den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Sogar Hitler hielt es für notwendig, seinen Verbrechen eine Lüge zur Wahrung des äußeren Scheins vorausschicken zu müssen: "Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen." Erfundene
Schauermärchen über aus Brutkästen gerissene Säuglinge in
Kuwait, Massenvernichtungswaffen im Irak (die gleichwohl nie
gefunden wurden), Falschmeldungen über unprovozierte
militärische Angriffe (z.B. der Tonkin-Zwischenfall, mit dem
Lyndon B. Johnson das Eingreifen der USA in Vietnam
rechtfertigte), vermeintlich finstere Absichten eines
Kontrahenten (etwa der bis dato nicht nachgewiesene serbische
"Hufeisenplan", mit dem sich der damalige
Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping blamierte) - fast
immer trifft die Aussage zu: "Das erste Opfer des Krieges ist
die Wahrheit."
Wobei das eigentliche Problem im Grunde nicht die Propagandalügen sind, die oft genug postwendend als solche durchschaut werden. Das Problem sind vielmehr die Menschen, die den Propagandalügen Glauben schenken und sie anschließend überall nachplappern. Entweder weil sie erschreckend naiv sind, oder weil sie bestimmte Interessen vertreten und vorsätzlich handeln. Es ist daher ratsam, bei allen Vorgängen gegenüber jedermann skeptisch zu bleiben und sich sein Urteil erst nach reiflicher Überlegung zu bilden. Voraussetzung dafür ist eine im Idealfall möglichst weitreichende geistige Unabhängigkeit, was allerdings keineswegs bedeutet, dass man überhaupt nichts mehr glauben soll respektive darf (so sind zum Beispiel die Berichte über russische Kriegsverbrechen im ukrainischen Butscha vermutlich wahr). Gewiss, eine intellektuelle Gratwanderung. Aber m.E. eine ziemlich reizvolle. ----------
[1]
Süddeutsche vom 04.08.2014
[2] Barbara Tuchman, August 1914, Frankfurt/Main
1993, Seite 131
|