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16. April 2023, von Michael Schöfer
Gespensterdiskussion


Ich bin froh, dass die Atomkraftwerke endlich stillstehen, denn ich fand immer einleuchtend, dass es keine unfallfreie Technik gibt, aber Unfälle bei Atomkraftwerken Folgen für viele Generationen haben. Tschernobyl und Fukushima sind ja dafür der schlagende Beweis. Das bei der Kernspaltung entstehende Plutonium-239 hat eine Halbwertszeit von gut 24.000 Jahren, es dauert also hunderttausende von Jahren, bis es ungefährlich ist. Um einmal diesen gewaltigen Zeitraum greifbar zu machen: Vor 24.000 Jahren herrschte in Europa gerade das Kältemaximum der letzten Eiszeit, zeitgeschichtlich nennt man dieses Periode "Jungpaläolithikum". Hätten also die Menschen der jüngeren Altsteinzeit schon Plutonium produziert, müssten wir uns noch immer davor schützen, weil seitdem erst die Hälfte zerfallen wäre. Keiner kann garantieren, dass ein Endlager für Atommüll so viele Jahre sicher ist - selbst Markus Söder nicht.

Gewiss, in hunderttausend Jahren wird keiner mehr über den bayerischen Ministerpräsidenten reden, nichtsdestotrotz würden die Folgen seiner Atompolitik dann noch irgendwo vergraben sein. Die Abschaltung der Kernkraftwerke sei ein "Fehler" und eine "Sünde" [1], wettert Söder völlig unbeirrt, und "man sei es künftigen Generationen schuldig, nicht nur über ein Endlager in ferner Zukunft zu diskutieren" [2]. In Bayern will er allerdings kein Endlager sehen, um den Atommüll sollen sich gefälligst andere kümmern. [3] Sankt Florian lässt grüßen.

Man tritt Markus Söder bestimmt nicht zu nahe, wenn man ihn in puncto Atomkraft als Windbeutel bezeichnet, der sich bereitwillig nach der gerade vorherrschenden Stimmung ausrichtet. Zur Erinnerung: Als Jugendlicher hatte er ein Plakat von Franz Josef Strauß über dem Bett hängen. Bei anderen hing zu jener Zeit vielleicht Madonna an der Wand, doch die sind deswegen auch nicht Ministerpräsident geworden. Spaß beiseite, jedenfalls war Franz Josef Strauß ein glühender Befürworter der Atomkraft und dessen CSU die Atomkraftpartei. In dieser Atomkraftpartei machte Strauß-Bewunderer Söder eine steile Karriere, und er profilierte sich dort mit Sicherheit nicht als Atomkraftgegner.

Als dann 2011 das AKW von Fukushima in die Luft flog, beschloss die schwarz-gelbe (!) Bundesregierung in einer überraschenden, aber angesichts des starken Gegenwinds verständlichen 180-Wende den Atomausstieg. Die Ampelregierung vollzieht jetzt bloß die seinerzeit vom Deutschen Bundestag beschlossene Gesetzesänderung. Bei der namentlichen Abstimmung gab es in den Reihen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion 224 Ja- und fünf Nein-Stimmen sowie zwei Enthaltungen. Franz Obermeier war der einzige CSU-Abgeordnete, der gegen den vorgezogenen Atomausstieg stimmte. [4]

Markus Söder, damals Umweltminister in Bayern, drohte sogar mit seinem Rücktritt, wenn der Atomausstieg nicht spätestens 2022 stattfinden würde. [5] Plötzlich wollten er und die CSU nichts mehr mit der zuvor von ihnen forcierten Kernenergie zu tun haben. Das geneigte Publikum rieb sich verwundert die Augen. Und nun abermals eine 180-Grad-Wende: Söder, mittlerweile als CSU-Chef und Ministerpräsident Nachfolger seines Idols, plädiert neuerdings wieder vehement für längere Laufzeiten. Motto: "Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?" Er besitzt ohne Zweifel das Rückgrat einer Gummipuppe. Doch wer kann ihm überhaupt noch etwas glauben?

Es wird keine Renaissance der Atomkraft geben, weil sie im Gegensatz zu den Erneuerbaren keine Lösung für unser Energieproblem ist. Von der Einhaltung der Treibhausgasziele (Klimaneutralität bis 2045) ganz zu schweigen. Erfahrungsgemäß laufen nämlich die Kosten und die Bauzeiten bei neuen AKW gewaltig aus dem Ruder und können sich vervielfachen. Beispiel Kernkraftwerk Olkiluoto in Finnland: Block 3 wurde 2003 ausgeschrieben, der Bau begann im Jahr 2005, als Kaufpreis hatte man 3 Mrd. Euro vereinbart, die Fertigstellung war ursprünglich für 2009 vorgesehen. Anfang 2022 taxierte man die Kosten auf ungefähr 11 Mrd. Euro, zudem ging Olkiluoto III erst im April 2023 in den Regelbetrieb. Bei den Kosten (11 anstatt 3 Mrd.) und bei der Bauzeit (18 anstatt 4 Jahre) verkalkulierte man sich gigantisch. Kernkraftwerk Flamanville in Frankreich dito, Kernkraftwerk Hinkley Point C in Großbritannien dito. Genaugenommen ein Fiasko, keine Renaissance.

Polen hat kürzlich angekündigt, in den USA und in Südkorea insgesamt sechs neue Atomkraftwerke zu kaufen, die ab 2026 gebaut werden und bis Mitte der 2040er-Jahre in Betrieb gehen sollen. Kosten: 40 Mrd. Euro. [6] Wenn sich wie in Finnland die Kosten und die Bauzeit fast vervierfachen, reden wir womöglich über 150 Mrd. Euro und einer Aufnahme des Regelbetriebs in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Die Erneuerbaren sind demgegenüber nicht nur absolut ungefährlich, sondern stehen auch zeitnah zur Verfügung. Windkraft oder Photovoltaik haben obendrein kein Endlagerproblem. Deshalb ist die von Markus Söder befeuerte Debatte über die Renaissance der Atomkraft eine Gespensterdiskussion.

2022 wurden in Bayern gerade mal 14 neue Windkraftanlagen errichtet. Zum Vergleich: bundesweit waren es 551. [7] Im ersten Quartal 2023 waren es lediglich fünf. [8] Den Ausbau als schleppend zu bezeichnen, wäre daher beschönigend. Auch beim Ausbau der notwendigen Stromtrassen geht es kaum voran. Trassenpläne mithilfe des Landesrechts zu vereiteln, wie es Horst Seehofer 2015 beabsichtigte, kommentierte der damalige bayerische Heimatminister wie folgt: "Ich finde das eine gute Idee." Sein Name: Markus Söder. [9] Jetzt kann es ihm gar nicht schnell genug gehen, auf einmal will er den Ausbau beschleunigen, beklagt sich jedoch, dass keine der fünf vom Bund geplanten Stromtrassen nach Bayern führt. [10] Konrad Adenauer hat sich anno dazumal in einer ähnlichen Situation mit ostentativ zur Schau gestellter Unschuldsmiene verteidigt: "Aber meine Herren, es kann mich doch niemand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden."

Der weniger geneigte Beobachter fragt sich: Was, außer permanent über irgendetwas zu stänkern und ansonsten sein Fähnchen nach dem Wind auszurichten, macht dieser Markus Söder eigentlich? Der Mann ist seit 1994 Landtagsabgeordneter und sitzt seit 2007 in der bayerischen Landesregierung. Er hätte viel von dem, was er will, längst umsetzen können. Aber genau daran scheint es zu hapern: Er weiß offenbar nicht, was er will. Und wir wissen es ebenso wenig. Bleibt abzuwarten, was das Wahlvolk zu diesem grotesken Schauspiel sagt, am 8. Oktober 2023 sind nämlich in Bayern Landtagswahlen. Nicht auszuschließen, dass uns Markus Söder bis dahin mit weiteren Kapriolen beglückt.

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[1] Die Zeit-online vom 13.04.2023
[2] tagesschau.de vom 16.04.2023
[3] ntv vom 08.07.2019
[4] Deutscher Bundestag, 117. Sitzung des Deutschen Bundestages am 30.06.2011, Endgültiges Ergebnis der Namentlichen Abstimmung Nr. 1, PDF-Datei mit 114 KB
[5] Süddeutsche vom 26.05.2011
[6] tagesschau.de vom 11.04.2023
[7] Süddeutsche vom 18.01.2023
[8] Bayerische Staatszeitung vom 11.04.2023
[9] Süddeutsche vom 16.04.2015
[10] Süddeutsche vom 14.03.2023