Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



20. April 2023, von Michael Schöfer
Bankrotterklärung


Der Bericht über den Missbrauch von Kindern durch Priester im Erzbistum Freiburg spricht von mehr als 250 möglichen Tätern. Offenbar wurden Taten systematisch vertuscht und die Täter geschützt, den Opfern wiederum nicht oder kaum geholfen. Man geht dort mittlerweile von 540 Betroffenen aus. [1] Im Bistum Essen sollen es 423 Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester und Ordensleute gewesen sein, es gibt 190 Beschuldigte. Auch hier hat man Taten vertuscht und die Täter geschützt. [2] Im Erzbistum Köln sind es 127 beschuldigte Kleriker und 314 Betroffene. [3] Die Taten und Vertuschungen erstreckten sich über Jahrzehnte, und an der Verschleierung beteiligten sich höchste Amtsträger, keineswegs bloß Subalterne. Das sind nur drei von insgesamt 27 Bistümern der römisch-katholischen Kirche in Deutschland. Abgründe tun sich auf. Vielleicht sehen wir nur die Spitze des Eisbergs, unter der Wasserlinie könnte noch viel mehr verborgen sein.

Warum werden die Kirchen immer noch vergleichsweise milde angefasst? Gegen jede andere Organisation hätte der Staat längst mit der gebotenen Gründlichkeit und der notwendigen Härte ermittelt, vielleicht sogar deren Struktur zerschlagen, doch die Kirche darf sich weiter hinter der vom Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit und ihren dort verankerten Privilegien verstecken (vgl. Art. 140 GG). Im Erzbistum München und Freising hat man alle staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren eingestellt, entweder wegen Verjährung oder aus Mangel an Beweisen. Gewiss, die Verjährung und die Unschuldsvermutung gilt natürlich auch für Kleriker, allerdings haben die Behörden bei der Kirche anscheinend auch geraume Zeit bereitwillig weggesehen. "Schon 2010 bekam die Münchner Staatsanwaltschaft I ein nicht veröffentlichtes Gutachten vom Erzbistum München und Freising auf den Tisch. Aktiv geworden ist die Behörde damals aber nicht." [4] Das ist in meinen Augen der Skandal im Skandal. Man kann annehmen, dass damals manche Taten noch nicht verjährt waren.

Was passiert mit den Verantwortlichen? Vermutlich nichts oder nicht allzu viel. Im Gegenteil, die Kirche darf andere weiterhin mit päpstlichem Segen über die - aus ihrer Sicht - richtige Moral belehren und ihnen ein gottgefälliges Leben abverlangen (was immer das konkret heißen mag). Die Moral gilt aber offenbar nur fürs gemeine Volk, nicht für die Kirche selbst. Gottes Bodenpersonal praktiziert Doppelstandards, lässt sich dabei jedoch ungern ertappen. Für jeden, der sich kritisch mit der alles andere als glorreichen Kirchengeschichte befasst, keine echte Überraschung. Zum Glück hat sie, im Gegensatz zu früher, keine Zwangsmittel mehr zur Verfügung, um uns ihre skurrilen Moralvorstellungen zu oktroyieren. Aber die Kirchen sitzen zum Beispiel in den Fernsehräten, wo sie mittelbar Einfluss aufs Programm nehmen können. Wie bitte? Ja, dort sitzen Organisationen, in deren Verantwortungsbereich es unabhängigen Gutachtern zufolge jahrzehntelang zu Kindesmissbrauch kam, der mit dem Segen von ganz oben vertuscht wurde.

Die Kirchen bekommen in schöner Regelmäßigkeit Millionen vom Staat überwiesen - als Entschädigung für die Säkularisation von Kircheneigentum (die Inbesitznahme von Kirchengütern durch den Staat) im Jahr 1803. Ja, Sie lesen richtig: 1803. Der Anlass liegt also mehr als 200 Jahre zurück, damals befand sich ein gewisser Napoleon Bonaparte auf dem Zenit seiner Macht. Die Zeit ging zwar über die Fürstentümer, das Kaiserreich, die Weimarer Republik und die Nazi-Diktatur hinweg, dabei verloren durch Kriege oder Wirtschaftskrisen ganze Generationen mehrfach ihr Hab und Gut, aber die Kirchen bekommen treu und brav das ihnen angeblich zustehende Geld überwiesen. Jahr für Jahr. 2022 waren es 594 Mio. Euro. Wohlgemerkt, zusätzlich zu der vom Staat eingezogenen Kirchensteuer. Die Gesamtsumme der Staatsleistungen an die Kirchen seit Gründung der Bundesrepublik beläuft sich auf 20,2 Mrd. Euro (ohne die Zahlungen in der DDR). [5] Vom Geld, das vor 1949 geflossen ist, ganz zu schweigen. Von derlei Großzügigkeit können die zahlreichen Opfer der von Deutschen begangenen Verbrechen nur träumen. So mussten etwa die Nachkommen der Herero und Nama in Namibia für den zwischen 1904 und 1908 an ihren Vorfahren begangenen Völkermord 113 Jahre lang auf eine Entschädigung warten, in den nächsten 30 Jahren sollen 1,1 Mrd. Euro fließen. [6] Im Vergleich zur Entschädigung der Kirchen ein Almosen.

Es ist unglaublich, mit welcher Nachsicht die Kirchen hierzulande rechnen können. Und weil sich das kaum ändern dürfte, dazu fehlen leider die parlamentarischen Mehrheiten, wünsche ich mir wenigstens das: Die Kirchenmitglieder sollen massenhaft aus diesen moralisch bankrotten Organisationen austreten. Noch mehr Austritte als ohnehin schon.

----------

[1] ZDF vom 18.04.2023
[2] ZDF vom 14.02.2023
[3] Gutachten Pflichtverletzungen von Diözesanverantwortlichen des Erzbistums Köln, PDF-Datei mit 4,4 MB
[4] tagesschau.de vom 21.03.2023
[5] fowid vom 16.05.2022
[6] Spiegel-online vom 13.01.2023