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| Impressum 23. April 2023, von Michael Schöfer Dem Westen fehlt es an Glaubwürdigkeit und Stringenz "Europa muss aus dem Denkmuster herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas." Mit diesen Worten begründete kürzlich der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar die Haltung seines Landes zum Krieg in der Ukraine und zum Verhältnis zu Russland. [1] Und: "Ich kann Ihnen viele Beispiele von Ländern geben, die die Souveränität eines anderen Landes verletzt haben. Wenn ich fragen würde, wo Europa in diesen Fällen gestanden ist, würde ich eine lange Stille als Antwort erhalten." [2] Wir müssen, auch wenn die indische Politik im konkreten Fall unseren Interessen zuwiderläuft, offen eingestehen: Subrahmanyam Jaishankar hat durchaus recht. Einerseits ist es natürlich gut, wenn man aus den Fehlern der Vergangenheit lernt, andererseits darf dann aber die neugewonnene Prinzipienfestigkeit nicht nach Gutdünken eingehalten oder außer Kraft gesetzt werden - je nachdem, was gerade politisch opportun erscheint. Ein Beispiel: Dass der Internationale Strafgerichtshof wegen den russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine ermittelt und einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen hat, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Keiner steht über dem Gesetz, nicht einmal Staatspräsidenten. Selbst die USA begrüßen die Ermittlungen und den Haftbefehl, obgleich sie den IStGH gar nicht anerkennen. Es wäre allerdings für die Glaubwürdigkeit des Westens extrem hilfreich gewesen, auch die eigenen Kriegsverbrechen juristisch aufzuarbeiten, etwa die im Irakkrieg und während der anschließenden Besetzung des Landes begangenen. Doch George W. Bush hat sich nie für den völkerrechtswidrigen (kein UN-Mandat) und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen (die Massenvernichtungswaffen Husseins) begonnenen Angriffskrieg verantworten müssen. Es bleibt der bittere Nachgeschmack von Doppelstandards zurück. Und das keineswegs ohne Grund. In den USA gilt seit 2002 sogar ein Gesetz (American Servicemembers' Protection Act), das den Präsidenten der Vereinigten Staaten ausdrücklich ermächtigt, in Den Haag inhaftierte US-Bürger notfalls militärisch zu befreien. [3] Eine US-Invasion in den Niederlanden? Unglaublich. Der spätere republikanische Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus bezeichnete den Internationalen Strafgerichtshof damals als "Schurkengericht". Und das nicht deshalb, weil dort "Schurken" auf der Anklagebank sitzen. Wie war das mit der regelbasierten internationalen Ordnung, an die sich alle zu halten haben? Es wäre interessant zu erfahren, was Washington dazu sagen würde, wenn die Duma die russische Regierung per Gesetz ermächtigen würde, Wladimir Putin bei Bedarf militärisch aus dem Gewahrsam des IStGH zu befreien. Vermutlich gäbe es einen Aufschrei ohnegleichen. Entsprechende Reaktionen erleben wir beim Welthandel und der gezielten Einflussnahme in anderen Weltregionen. Viele historische Vorgänge haben sich fest in das jeweilige kollektive Gedächtnis der Völker eingebrannt. Wenn der Westen heute beispielsweise im Rahmen der Globalisierung auf "faire Handelsbeziehungen und faire Wettbewerbsbedingungen" dringt, sollte er niemals die Geschichte ignorieren. Das macht es zumindest leichter, Stimmen wie die des eingangs erwähnten indischen Außenministers Subrahmanyam Jaishankar zu verstehen. Fragen Sie mal einen Inder, Chinesen, Indonesier oder Afrikaner, ob sie die früheren oder jetzigen Handelsbeziehungen mit Europa als fair bezeichnen würden. Bestimmt ernten Sie verständnislose Blicke und schallendes Hohngelächter. Solange
man den Europäern aufgrund von objektiv nachvollziehbaren
Fakten unterstellt, zu fairen Handelsbeziehungen und fairen
Wettbewerbsbedingungen ein opportunistisches Verhältnis zu
haben (Europa fordert sie ein, solange die Europäer als
Bittsteller auftreten müssen; Europa ignoriert sie, solange
die Europäer aus einer Position der Stärke heraus agieren),
wird man selbst mit den besten Argumenten kaum durchdringen.
Und die ehemaligen Kolonialmächte mögen die Kolonialisierung
verdrängen oder als erledigt ansehen, nichtsdestotrotz ist
diese Zeit in den früheren Kolonien nach wie vor präsent
(wenngleich sie zugegebenermaßen von den dortigen Machteliten
nicht selten für unlautere Zwecke instrumentalisiert wird).
Was
dem Westen insgesamt oft fehlt, sind Glaubwürdigkeit und
Stringenz. Vieles wäre leichter, wenn wir uns häufiger in die
Position der anderen hineinversetzen würden. Um
Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht darum, an den
Sanktionen gegen Russland und an der Unterstützung der Ukraine
herumzumäkeln, sondern vielmehr darum, in vergleichbaren
Situationen auch ähnlich konsequent zu handeln.
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[1]
tagesschau.de vom 25.02.2023
[2]
ORF
vom 03.01.2023
[3] Spiegel-online vom 12.06.2002
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