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27. April 2023, von Michael Schöfer
Keine Beteiligung an der Simulation von Demokratie


Wenn ich mich richtig erinnere, bin ich seit meinem 18. Lebensjahr zu jeder Wahl gegangen: Oberbürgermeister-, Gemeinderats-, Landtags-, Bundestags- oder Europawahlen. Ausnahmslos. Nicht zu wählen hielt ich schon immer für falsch, weil man damit naturgemäß nur diejenigen stärkt, die abweichende Interessen haben. Doch die repräsentative Demokratie lebt davon, in den Parlamenten oder Regierungen auch tatsächlich den Wählerwillen abzubilden, andernfalls verkommt sie zur Farce. Und diesbezüglich wurden bei mir 2019 erstmals Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Europawahl geweckt. Inzwischen bin ich nicht mehr bereit, mich durch meine Stimmabgabe an der Simulation von Demokratie zu beteiligen, weshalb ich bei der Europawahl im Frühjahr 2024 keinesfalls ins Wahllokal gehe. Werde ich im Alter etwa unpolitisch? Nein, das nicht, aber in zunehmenden Maße politikverdrossen.

Das EU-Parlament hat bis dato kein Initiativrecht, d.h. es kann keine eigenen Gesetze vorschlagen und beschließen, es darf lediglich über Gesetze abstimmen, die die EU-Kommission vorschlägt. Zwingen, einen Gesetzentwurf einzubringen, kann das EU-Parlament die EU-Kommission freilich nicht. Obgleich dieser absurde und höchst undemokratische Zustand immer wieder von fast allen Parteien beklagt wird, ändert sich daran überhaupt nichts. Warum sollen wir Abgeordnete entsenden, wenn diese im EU-Parlament nur über eingeschränkte Rechte verfügen? Veräppeln lassen kann ich mich auch andernorts.

Apropos veräppeln: Sie erinnern sich doch gewiss noch an die mit großem Tamtam angekündigten Spitzenkandidaten bei der letzten Europawahl. Von den Parteifamilien wurden jeweils Spitzenkandidaten benannt, von denen einer Kommissionspräsident werden sollte, die aussichtsreichsten waren Manfred Weber von der konservativen EVP und der Sozialdemokrat Frans Timmermans. Zumindest haben das alle dem Wahlvolk suggeriert. EU-Kommissionspräsidentin wurde bekanntlich Ursula von der Leyen, die allerdings auf keiner Liste kandidierte und daher auch keine einzige Wählerstimme bekam. Sie stand nirgendwo auf dem Wahlzettel, niemand hatte sie auf der Rechnung, schlussendlich hat sich ein kleiner Kreis im berühmt-berüchtigten Hinterzimmer auf sie geeinigt. Der Wähler sollte entscheiden, ob er den Apfel oder die Birne will - bekommen hat er dann die Zitrone. Tolle Demokratie, finden Sie nicht auch? Ich sage: Es ist eine Farce.

Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Von der Leyen hat 2003 das erste und erstaunlicherweise auch das letzte Mal einen Wahlkreis direkt gewonnen, in jenem Jahr siegte sie bei der niedersächsischen Landtagswahl im Landtagswahlkreis Lehrte. Bei den Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017 unterlag sie im Bundestagswahlkreis Stadt Hannover II jeweils den Gegenkandidatinnen der SPD (Edelgard Bulmahn, Yasmin Fahimi). Dennoch hat sie eine steile Karriere hingelegt: Landesfamilienministerin (2003 bis 2005) unter Ministerpräsident Christian Wulff; Bundesfamilienministerin (2005 bis 2009), Bundesarbeitsministerin (2009 bis 2013), Bundesverteidigungsministerin (2013 bis 2019) unter Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und 2019 folgte dann für alle überraschend auf Vorschlag von Emmanuel Macron ihre Inthronisation als EU-Kommissionspräsidentin.

Das Wahlvolk würde bei denen, die es regieren, aber gerne ein Wörtchen mitreden. Irgendwann. Wenigstens ein bisschen. Doch von der Leyen musste für ihre beeindruckende Karriere im Wesentlichen nur Angela Merkel und Emmanuel Macron von sich überzeugen, die Wählerinnen und Wähler hatten darauf kaum Einfluss (es sei denn, die Union hätte so wenig Stimmen bekommen, dass sie nicht mehr in die Regierungsverantwortung gekommen wäre). Von der Leyen wurde stets auf ihrer Landesliste mitgewählt (was natürlich nicht zu beanstanden ist). Und nun regiert sie Europa, ohne dass das Wahlvolk daran irgendetwas hätte ändern können. Wenig verwunderlich, dass die EU das Stigma, ein Europa der Eliten zu sein, einfach nicht loswird.

Sobald es für den Wähler tatsächlich etwas zu entscheiden gibt, werde ich mich gerne wieder daran beteiligen. Der Europawahl 2024 bleibe ich aber definitiv fern, weil ich bei der Simulation von Demokratie nicht die letztlich irrelevante Staffage spielen möchte.