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05. Mai 2023, von Michael Schöfer
Warten auf den Tod


Ich muss sterben. Irgendwann. Und - surprise, surprise - Sie müssen das auch, was mich allerdings zugegebenermaßen kaum tröstet. Wenigstens diesbezüglich sind wir alle gleich. Sterben ist für unseren Verstand schwer zu begreifen, aber für die, die den Tod erleiden, bittere Realität: 216 v. Chr. wurden bei der Schlacht von Cannae 50.000 bis 70.000 Legionäre von karthagischen Truppen unter dem legendären Hannibal getötet, 217 v. Chr. waren es bei der Schlacht am Trasimenischen See 15.000 und 218 v. Chr. bei der Schlacht an der Trebia 20.000 Römer. Lang, lang ist's her, doch was heute bloß als nüchterne Zahl in unseren Geschichtsbüchern erscheint, waren damals Individuen aus Fleisch und Blut. Wahrscheinlich hatte jeder Angehörige, die ihn vermissten, zu denen er aber nie wieder zurückkehrte. Zumindest bei Legionären war das kein Ausnahmefall.

So viele unvollendete Leben, mit all ihren Leidenschaften, Sehnsüchten und Möglichkeiten - plötzlich fort und für immer dahin. Ganz so, als hätten sie, außer in unseren Geschichtsbüchern, nie existiert. Was wird man in 2000 Jahren über uns lesen? Jedenfalls über uns Normalbürger trotz den vergleichsweise recht fortschrittlichen Aufbewahrungsmöglichkeiten sogar eher weniger, weil wohl keiner von uns an historisch bedeutsamen Schlachten teilnimmt. Kriegerische Auseinandersetzungen sind auch nicht wünschenswert. TikTok-Videos, Instagram-Alben oder Facebook-Kommentare wiederum dürften im Gegensatz zu sumerischen Tontafeln kaum die Jahrtausende überdauern. Mit welchem Laufwerk lesen Sie die aus dem Nachlass Ihres Vaters stammenden 5 1/4 Zoll-Disketten? Na, sehen Sie!

Im Allgemeinen wird die Beschäftigung mit dem Tod in der modernen, hedonistisch orientierten Gesellschaft verdrängt, doch je älter Menschen werden, desto häufiger befassen sie sich gedanklich mit der eigenen Vergänglichkeit. Die meisten heimlich, ohne groß mit anderen darüber zu reden. Träume vom Jungbrunnen oder eines wie auch immer zustandekommenden Neubeginns (um törichte Fehler zu revidieren) sind dabei jedoch völlig nutzlos, weil der Pfeil der Zeit unerbittlich nur in eine Richtung zeigt und sie sich bislang als absolut unumkehrbar erweist. Das Ende kommt demzufolge unausweichlich, die einzige Frage ist lediglich, wann und unter welchen Umständen. Nichtsdestotrotz finde ich es spannend, darüber nachzudenken. Das allerletzte Mysterium: Wie ist das, aufzuhören zu existieren und nicht mehr wie nach einem erholsamen Schlaf wieder aufzuwachen? Vollständig vergessen zu werden, weil spätestens hundert Jahre nach dem Tod keiner mehr lebt, der sich erinnern kann. Schwer vorstellbar, sehr beunruhigend und irgendwie unheimlich.

Es gibt viele Arten zu sterben: schnelle und langsame, sanfte und schmerzvolle, bewusst miterlebte oder unter dem trübenden Schleier des Deliriums. Was uns freilich in Literatur und Film begegnet, sind überwiegend Außenperspektiven. Sterben wird fast ausschließlich aus der Sicht des Betrachters gezeigt, jedoch ziemlich selten, wie das Ganze aus der Perspektive des Sterbenden aussieht. Krimis zeigen beispielsweise, wie ein Mörder seinem Opfer mehrfach das Messer in den Bauch rammt und dieses daraufhin sterbend zusammensackt, wirklich interessant wäre allerdings die Beschreibung, was das Opfer dabei denkt und fühlt. Wie ist das, wenn man erkennt, dass es nun zu Ende geht und die Lebenskraft entweicht?

Wir können darüber natürlich nur Vermutungen anstellen, denn kein Verstorbener hat je davon berichtet. Auch Nahtod-Erfahrungen leiden unter dem gravierenden und letztlich ausschlaggebenden Mangel, dass die Betroffenen nicht tatsächlich gestorben sind, sondern kurz vor dem Überschreiten der Schwelle zum Tod (dem Point of no return) wieder ins Reich der Lebenden zurückgeholt wurden. Die Psyche spielt uns bekanntermaßen oft einen Streich, was gerade in Extremsituationen von Relevanz sein dürfte. Die dabei gemachten subjektiven Erfahrungen, etwa das grelle Licht am Ende eines Tunnels, lassen sich plausibel mit Panikreaktionen des vom Tod bedrohten Gehirns erklären, sagen daher nicht wirklich etwas über das Jenseits aus. Falls es Letzteres überhaupt gibt und nicht bloß in unserem Wunschdenken existiert.

Selbstverständlich kann ich ebenfalls nur darüber spekulieren und habe keinerlei erhellende Erkenntnisse anzubieten. Religiöse Überzeugungen waren mir von jeher fremd, doch auch die Wissenschaft kann darüber nichts Substanzielles berichten. Das Sterben und der Tod sind nach wie vor ein Mysterium, und sie werden es vermutlich auf ewig bleiben. Es ist keineswegs so, dass ich mich nach dem Tod sehne, aber ich bin durchaus auf diese letzte Erfahrung gespannt. Ich komme ihr naturgemäß mit zunehmendem Alter peu à peu näher. Unter der Voraussetzung dabei schmerzfrei zu sein, würde ich sie gerne bewusst erleben.