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| Impressum 07. Mai 2023, von Michael Schöfer Charles III. und Putin I. - protestieren verboten! Was haben Moskau und London gemeinsam? Wer als Demonstrant ein Schild hochhält und friedlich protestiert, wird wie ein Verbrecher behandelt und von der Polizei festgenommen. Auf dem einen genügt das verfemte Wort "Krieg", auf dem anderen das antiroyale Bekenntnis "NOT MY KING". Es macht offenkundig keinen Unterschied, ob die Festnahmen in der Hauptstadt einer totalitären Diktatur oder in der Hauptstadt der "ältesten Demokratie der Welt" (Eigenwerbung) stattfinden. Festnahme ist Festnahme. In Moskau darf man nicht gegen die "militärische Spezialoperation" sein, in London nicht gegen die als "Krönung" deklarierte Karnevalsveranstaltung. Beides verboten. Vom Kremlherrscher, Zar Putin I., erwartet man ja nichts anderes. Aber vom Mutterland der Demokratie...? Dabei ist dieses sündhaft teure Zeremoniell, dessen Begleichung selbstverständlich dem britischen Steuerzahler obliegt, so aus der Welt gefallen, dass man darauf im Grunde nur mit Hohn und Spott oder demonstrativer Verachtung reagieren kann. Charles III. wurde bei der Krönung mit "heiligem Öl" gesalbt, lesen wir, dabei wird die Macht rituell von Gott auf den neuen König übertragen. Stichwort: Gottesgnadentum. Wir verneigen uns in Ehrfurcht. Charles Philip Arthur George Mountbatten-Windsor ist also der gottgewollte König des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland sowie 14 weiteren souveränen Staaten (Antigua und Barbuda, Australien, Bahamas, Belize, Grenada, Jamaika, Kanada, Neuseeland, Papua-Neuguinea, Salomonen, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, Tuvalu). Und das bloß, weil er 1948 das Glück hatte, nicht als Arbeiterkind in Liverpool auf die Welt zu kommen. Die Rechtfertigung von Privilegien qua Geburt bedarf gezwungenermaßen der mythischen Überhöhung, sonst würden die "Untertanen" ihre Monarchen wohl kaum akzeptieren. "Heiliges Öl" kann beim monarchieerhaltenden Hokuspokus keinesfalls schaden. Darüber, wie reich Charles ist, existieren nur Schätzungen. "Das Gesamtvermögen von Charles, inklusive Immobilien, teuren Pferden, Autos, Juwelensammlungen und dergleichen, schätzt der Guardian auf 1,8 Milliarden Pfund. Die konservative Sunday Times kam in ihrer neuesten Schätzung auf weniger, nämlich 600 Millionen Pfund." [1] Wie auch immer, darben muss er jedenfalls nicht. Der König dürfte angesichts der komplexen Struktur aus Privateigentum, Crown Estate (Krongut) und den Herzogtümern Lancaster und Cornwall selbst den Überblick verloren haben. Wenigstens muss er keine Erbschaftsteuer zahlen. Apropos: Bei Normalsterblichen beträgt der Erbschaftsteuersatz oberhalb des Freibetrags von 325.000 Pfund 40 Prozent. Monarchen profitieren daher mehrfach. Wer schon hat, dem wird bekanntlich noch gegeben. Und das in einem Land, "in dem mehr als 14 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben, 22 Prozent der gesamten Bevölkerung". [2] Eigentlich hätten die Briten diese vermeintlich gottgewollten Blutsauger längst zum Teufel jagen müssen, doch die Zustimmung zur Monarchie ist ungebrochen. Im Mai 2022 sprachen sich laut einer YouGov-Umfrage aus Anlass des 70. Thronjubiläums von Elisabeth II. stattliche 62 Prozent der Briten für die Beibehaltung der Monarchie aus, lediglich 22 Prozent waren dagegen und plädierten für die Einführung der Republik. [3] Dass sich aber die 22 Prozent der Briten am Rande der Krönung noch nicht einmal Gehör verschaffen dürfen, ist ein echter Skandal, so etwas kennt man gemeinhin nur aus Diktaturen. Charles III. und Putin I. - protestieren nicht erlaubt! Der Monarch ist anscheinend nicht souverän genug, um Kritiker der grotesken Karnevalsveranstaltung zu tolerieren. Oder war da vielleicht die Regierung Seiner Majestät ein bisschen übereifrig? Das ist unter dem Strich vollkommen egal. Und die Liverpooler Arbeiterkinder? Die mussten notgedrungen von ihren Talenten leben - entweder wie John, Paul, George und Ringo musikalisch oder wie Steven Gerrard beim FC Liverpool fußballerisch reüssieren. Die Beatles waren zwar laut John Lennon "populärer als Jesus" und an der Anfield Road mutierte Gerrard zum Fußballgott - von Salbungen ist allerdings trotzdem nichts überliefert. Was wohl aus Charles geworden wäre, hätte er nicht das Glück gehabt, mit goldenen Löffeln im Mund geboren zu sein? Monarchen müssen sich ihre herausgehobene Stellung nicht durch eigene Leistungen erarbeiten, sie fällt ihnen in den Schoß. Charles, der ewige Thronfolger, brauchte nur lange genug zu warten, das genügte vollauf. Aber sich deswegen als was Besseres zu fühlen und faktisch durch den ererbten materiellen Reichtum unverdienterweise auch was Besseres zu sein, ist - mit Verlaub - zutiefst erbärmlich, wovon der royale Pomp jedoch geschickt abzulenken vermag. Anders ausgedrückt: Letztlich sitzen sogar Könige bloß mit heruntergelassenen Hosen auf dem Klo. ----------
[1]
Süddeutsche vom 06.05.2023, Printausgabe, Seite 3
[2]
Süddeutsche a.a.O.
[3] YouGov, Jubilee - Views of the
Monarchy Survey Results, PDF-Datei mit 340 KB
Nachtrag
(08.05.2023):
Das Vorgehen der Londoner Polizei gegen die Monarchie-Gegner stützt sich auf das erst kürzlich in Kraft getretene Gesetz zur öffentlichen Ordnung (Public Order Bill). Eingebracht wurde der Gesetzentwurf von der früheren Innenministerin Priti Patel (Conservative Party). Und es ist genau das eingetroffen, was Kritiker von Anfang an befürchtet haben. So schrieb etwa der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Volker Türk, Ende April in einer Pressemitteilung: "Das
vom britischen Parlament verabschiedete Gesetz über die
öffentliche Ordnung (Public Order Bill) ist ein äußerst
beunruhigendes Gesetz, das mit den internationalen
Menschenrechtsverpflichtungen des Vereinigten Königreichs in
Bezug auf das Recht der Menschen auf freie Meinungsäußerung,
friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit unvereinbar
ist. (…) Besonders besorgniserregend ist, dass das Gesetz
die Befugnisse der Polizei zur Kontrolle und Durchsuchung
von Personen, auch ohne Verdacht, ausweitet, einige der
neuen Straftatbestände vage und zu weit gefasst definiert
und Menschen, die friedliche Proteste organisieren oder
daran teilnehmen, mit unnötigen und unverhältnismäßigen
Strafen belegt. (…) Die Regierungen sind verpflichtet,
friedliche Proteste zu ermöglichen und gleichzeitig die
Öffentlichkeit vor ernsthaften und anhaltenden Störungen zu
schützen. Die große Gefahr besteht jedoch darin, dass diese
Anordnungen die künftige legitime Ausübung der Rechte von
Personen präventiv einschränken." [4]
Diesem Willkürgesetz zufolge ist es in Großbritannien verboten, in der Öffentlichkeit friedlich zu protestieren, sofern es der Polizei aus irgendeinem Grund missfällt. Und die Hürden scheinen nicht allzu hoch zu sein, nach Ansicht der Behörden reicht es schon aus, die öffentliche Ruhe zu stören (was immer das konkret bedeuten mag). Dieses Gesetz hätte ohne weiteres auch aus Putins Feder stammen können und belegt, dass die Konservativen wenig Respekt vor der Meinungsfreiheit Andersdenkender haben. Lee Anderson, der stellvertretende Parteivorsitzende, schrieb dazu auf Twitter: "Nicht mein König? Wenn Sie nicht in einem Land leben möchten, das eine Monarchie hat, besteht die Lösung darin, nicht mit Ihren dummen Brettern aufzutauchen. Auswandern ist die Lösung." Aha. Alle, die nicht einverstanden sind, sollen also gefälligst verschwinden. Das ist Demokratie à la Tories. [4] United Nations, The Office of the
United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR),
Pressemitteilung vom 27.04.2023, Übersetzung
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