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08. Mai 2023, von Michael Schöfer
Merken die nicht, was sie damit anrichten?


Die Schlüsselszene im Film "Match Point" von Woody Allen ist die Beseitigung der Beute. Chris Wilton täuscht einen Raubmord vor, um ungestraft seine Geliebte loszuwerden. Den Schmuck der ermordeten Nachbarin, den er zu diesem Zweck mitgehen lässt, will er in der Themse entsorgen. Doch der Ehering der alten Dame prallt vom Geländer auf die Uferpromenade zurück, was Wilton letztlich auf kuriose Art und Weise den Hals rettet, weil es den Verdacht auf einen anderen lenkt. Manchmal ist es verdammt knapp, will uns der Film vermitteln. Oft entscheiden nur Millimeter, in welche Richtung sich etwas entwickelt. Und leider nicht selten kommen die Bösen davon. Wie im richtigen Leben also.

Knapp soll es den Umfragen zufolge auch am kommenden Sonntag bei den Wahlen in der Türkei zugehen. Wird der Autokrat Recep Tayyip Erdogan wirklich noch einmal gewinnen? Oder kann sein Kontrahent Kemal Kilicdaroglu die Türkei endlich wieder in demokratischere Gefilde steuern? Vielleicht entscheiden, analog zu Match Point, nur wenige Stimmen über Sieg oder Niederlage. Ein Sieg Kilicdaroglus könnte jedenfalls viel Druck von den demokratischen Gesellschaften Europas nehmen, weil man dann auf einen anderen Umgang mit internationalen Krisen hoffen darf.

Als demokratisch gesinnter Bürger Europas hat man nämlich das ungute Gefühl, dass sich etwas Bedrohliches zusammenbraut. Wie das zurückweichende Meer einen unheilbringenden Tsunami ankündigt, werfen auch künftige Katastrophen ihre Schatten voraus. In Polen und in Ungarn regieren schon seit längerem erklärte Feinde der liberalen Demokratie, in Italien ist seit kurzem eine Ministerpräsidentin der rechtsextremen Fratelli d’Italia an der Macht. In Frankreich bemüht sich Emmanuel Macron faktisch nach Kräften, Marine Le Pen 2027 den Weg ins Präsidentenamt zu ebnen. Ungewollt zwar, aber durch seine unsoziale Politik durchaus vorsätzlich. In Österreich hat der FPÖ-Vorsitzende Herbert Kickl, bei dem Staatspräsident Van der Bellen bewusst offen lässt, ob er ihn im Falle seines Wahlsieges mit der Regierungsbildung beauftragt, schon die Übernahme des Bundeskanzleramts im Blick. Sogar in Schweden ist eine rechte Partei indirekt (durch Duldung) an der Regierung beteiligt. Und in den USA ist keineswegs ausgemacht, dass der Transatlantiker Joe Biden 2024 erneut ins Weiße Haus einzieht.

Umso erstaunlicher ist die Unfähigkeit des sozialdemokratischen und konservativen Lagers, die Probleme der Bürgerinnen und Bürger zu lösen, dabei ist die grassierende Wohnungsnot nur ein Aspekt unter vielen. Nehmen wir zum Beispiel Deutschland: marode Bundesbahn, marode Autobahnbrücken, unzureichende Netzabdeckung beim Mobilfunk, große Lücken bei der Breitbandversorgung, die Bundeswehr nur bedingt abwehrbereit, fehlende Stromtrassen, ungenügender Ausbau der Erneuerbaren, eklatanter Rückstand beim Umbau der Heizungen, verfehlte Klimaziele, Maut-Debakel, fehlende Ladestationen für Elektroautos… Da stellt man sich unwillkürlich die Frage: Was haben die Regierungen eigentlich in den letzten zwei Jahrzehnten gemacht? Ich meine, außer bestimmten Kreisen ordentlich Geld in die Taschen zu schaufeln?

Hinzu kommen empörende Maskengeschäfte, Vetternwirtschaft und Korruptionsskandale, wie etwa der im EU-Parlament. Löhne und Renten bleiben hinter der Preisentwicklung zurück, die Arbeitnehmer sollen immer länger arbeiten, doch die EU-Parlamentarier bekommen eine üppige Luxusrente ausgezahlt, von der Normalbürger nicht einmal zu träumen wagen. [1] Man gönnt sich ja sonst nichts. Merken die Politiker nicht, was sie damit anrichten? Es ist zu befürchten, dass die liberale Demokratie durch solche Machenschaften zunehmend erodiert, weil die Bürgerinnen und Bürger allmählich das Vertrauen verlieren. Die Unzufriedenheit mit der Demokratie wächst spürbar, meines Erachtens ist das jedoch keine grundsätzliche Abneigung, sondern lediglich die Unzufriedenheit über die Art und Weise, wie die Demokratie praktiziert wird.

Politik war schon von jeher ein schmutziges Geschäft, aber früher wurden anstehende Probleme wenigstens noch gelöst. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen zu bauen, was sie allerdings nicht annähernd erreicht. Unter Willy Brandt wurden 1973 allein in Westdeutschland 714.226 Wohnungen fertiggestellt. [2] In einem einzigen Jahr! Die Bundesregierung wäre froh, sie käme nach Ablauf der Legislaturperiode auf diese - aus heutiger Sicht erstaunliche - Zahl. Wie hat Brandt das bloß gemacht? Hexen konnte er jedenfalls nicht, aber er machte Politik im Interesse der Mehrheit, Klientelpolitik lag ihm fern.

Manchmal entscheiden Millimeter, es kann sich also noch alles zum Guten wenden. Doch wenn sich der Tsunami bereits durch das zurückweichende Meer ankündigt, darf man nicht länger phlegmatisch am Strand liegen bleiben und den nächsten Aperol Spritz bestellen. Leider hinterlassen viele Regierungen genau diesen Eindruck: "Krise? Welche Krise? Ach, lassen wir das Ganze doch mal geruhsam auf uns zukommen." Mit dieser Haltung wird das definitiv schiefgehen.

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[1] Tagesspiegel vom 03.05.2023
[2] Statistisches Bundesamt, Bauen und Wohnen, Baugenehmigungen / Baufertigstellungen, 4.1 Fertiggestellte Wohnungen in Wohn- und Nichtwohngebäuden insgesamt nach Bundesländern, PDF-Datei mit 915 KB