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09. Mai 2023, von Michael Schöfer
Warum haften eigentlich nicht Oettinger und Rech?


Politiker haften nicht für krasse Fehlentscheidungen. Selbst dann nicht, wenn sie die Bevölkerung gezielt hinter die Fichte geführt haben. Einerseits ist das verständlich, wer würde noch in die Politik gehen, wenn nach der Amtszeit die Privatinsolvenz droht? Andererseits muss der Steuerzahler oft Kosten tragen, die bei verantwortlichem Handeln der Regierenden gar nicht erst angefallen wären. Nicht persönlich haften zu müssen, wird allzu oft als Freibrief missverstanden. Stichwort: Moral Hazard. Der aus der Kollektivierung möglicher Verluste resultierende Fehlanreiz führt zu risikofreudigerem Verhalten. Kostet ja schlimmstenfalls nur die Reputation. Und darüber kann man durchaus mit einer gewissen Nonchalance hinweggehen.

Das beste Beispiel ist das Bahnprojekt Stuttgart 21. Aktuell verklagt die Deutsche Bahn ihre Projektpartner und will deren Beteiligung an den gestiegenen Kosten erzwingen. [1] Treppenwitz der Geschichte: Heute regieren in Baden-Württemberg die Grünen, die in der Opposition entschieden vor der eingetretenen Kostenexplosion gewarnt haben. Leider vergeblich.

Eine gehörige Portion Mitschuld an der verfahrenen Situation trägt die Deutsche Bahn selbst. Und natürlich auch der ehemalige Ministerpräsident Günther Oettinger sowie der frühere Innenminister Heribert Rech. Wir erinnern uns:

Als S21-Gegner Mitte 2008 mithilfe eines von den Grünen in Auftrag gegebenen Gutachtens des Ingenieur-Büros Vieregg-Rössler die Kosten für den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs auf 6,9 bis 8,7 Mrd. Euro bezifferten, wiegelte die Deutsche Bahn noch ab: "Das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm ist eines der am besten und umfassendsten geplanten Projekte der Deutschen Bahn AG. Daher ist davon auszugehen, dass der derzeit vorgesehene Kostenrahmen eingehalten wird." [2] Wenn jemand trotz Vorwarnung mit Absicht gegen die Wand fährt, kann er nach dem prophezeiten Crash trotzdem erfolgreich Schadenersatz einklagen? Auch das ist eine Frage, mit der sich das Verwaltungsgericht Stuttgart befassen dürfte.

Der damalige baden-württembergische Innenminister Heribert Rech (CDU) blies ins gleiche Horn wie die Deutsche Bahn und warf den Gutachtern "gravierende handwerkliche Fehler" vor. Sie zeigten "wenig Kenntnis von der tatsächlichen Baupreisentwicklung" und "die prognostizierten Baupreissteigerungen von bis zu 5,5 Prozent pro Jahr" seien "reine Spekulation". Den Grünen empfahl er, "sich an die Fakten zu halten". [3] Rech beteuerte: "Ich kenne kein Großprojekt in dieser Dimension in Deutschland, wenn nicht in Europa, das so solide durchgerechnet ist wie dieses Projekt." [4] Solide durchgerechnet. So, so… Aus heutiger Sicht ist jedenfalls klar, wer "wenig Kenntnis von der tatsächlichen Baupreisentwicklung" hatte. Es waren weder die Grünen noch die Gutachter.



Kostenentwicklung Stuttgart 21 (in Mrd. €) [5]
1995 2,5
2009 4,5
2013 6,5
2018 8,2
2022 9,8

Dabei war die Landesregierung internen Unterlagen zufolge sehr wohl über drohende Kostensteigerungen informiert, wollte die Öffentlichkeit aber bewusst nicht darüber informieren. Auf Wunsch von Ministerpräsident Günther Oettinger sollte von "neuen Kostenberechnung abgesehen werden", weil sie "in der Öffentlichkeit schwer kommunizierbar" seien. Oettinger befürchtete auch, dass die SPD "bei Bekanntwerden der Kostenentwicklung" von dem Projekt abrücken würde. [6] Oettinger und Rech sind demnach ebenfalls wider besseres Wissen gegen die Wand gefahren.

Wirklich kurios: Beklagt wird u.a. das Land Baden-Württemberg, das heute von den Grünen geführt wird, seinerzeit aber auf Geheiß von Oettinger & Co. handelte. Ausgerechnet die Oppositionspartei, die vergeblich vor den Machenschaften der früheren schwarz-gelben Landesregierung gewarnt hat, muss nun im Namen des Landes der Klage entgegentreten. Doch Oettinger und Rech sind fein raus und dürfen ungestört ihren Lebensabend und ihre üppigen Pensionen genießen. Juristisch mag das in Ordnung sein, aber jedem vernünftigen Beobachter dreht sich dabei der Magen um.

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[1] SWR vom 08.05.2023
[2] Deutsche Bahn AG, Pressemitteilung vom 18.07.2008, online nicht mehr verfügbar
[3] Innenministerium BW, Pressemitteilung vom 23.07.2008, online nicht mehr verfügbar
[4] Deutschlandfunk Kultur vom 12.06.2013
[5] Daten: SWR, Deutsche Bahn, Verkehrsministerium Baden-Württemberg
[6] Spiegel-online vom 06.11.2011