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24. Mai 2023, von Michael Schöfer
"Kriminelle Vereinigung" ist ein überzogener Vorwurf


Die Afroamerikanerin Rosa Parks übertrat am 1. Dezember 1955 in Montgomery/Alabama das Gesetz, weil sie sich weigerte, im öffentlichen Bus einen für Weiße reservierten Sitzplatz freizumachen. Die 42-Jährige wurde daraufhin von der Polizei festgenommen und angeklagt. Rosa Parks war aus damaliger Sicht eine Rechtsbrecherin, wurde aber durch ihr mutiges Handeln zu einer Ikone der Bürgerrechtsbewegung. Nicht sie war schlecht, sondern die Rassentrennungsgesetze waren es, das haben damals viele Weiße bloß nicht eingesehen.

Parks bekam später die höchsten zivilen Auszeichnungen der USA verliehen, vor ihrer Beisetzung im Jahr 2005 wurde sie im Kapitol öffentlich aufgebahrt und der Präsident ordnete Trauerbeflaggung an. Viel Ehre für eine, nun ja, "Rechtsbrecherin". Das hätte der weiße Richter, der Parks 1955 wegen "ungebührlichen Verhaltens" und "Verstoßes gegen örtliche Verordnungen" zu einer Geldstrafe von zehn Dollar verurteilte, vermutlich nicht einmal in seinen schlimmsten Alpträumen geahnt.

Die Übertretung von Gesetzen ist keine einfach zu beurteilende Angelegenheit. Einerseits würden wir uns wohl zu Recht empören, wenn sich etwa Neonazis auf der Straße festkleben würden, um den Grenzübertritt von Migranten zu verhindern. Andererseits bringen zumindest viele Verständnis für die Klimaaktivisten der "letzten Generation" auf, wenn sie mit ihren Festklebeaktionen in Berlin und andernorts den Straßenverkehr behindern. Zwei Handlungen aus unterschiedlichen Motiven heraus. Doch wenn zwei das Gleiche tun, ist das auch vor Gericht noch lange nicht dasselbe. Natürlich müssen Richter in ihren Urteilen den Kontext und die Motive der Angeklagten berücksichtigen.

Die Klimaaktivisten sind zugegebenermaßen lästig, lenken aber immer wieder die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf das schwerwiegende Problem des Klimawandels. Das mag unter Umständen (höchstrichterliche Urteile dazu stehen noch aus) als Nötigung strafbar sein, aber der Staat überzieht maßlos, wenn er den Aktivisten die Bildung einer kriminellen Vereinigung gemäß § 129 StGB vorwirft, denn deren Zweck ist nicht die Begehung von schweren Straftaten (erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit), sondern lediglich die Einhaltung der Klimaziele. Manche bezeichnen das - ungeachtet einer möglichen Strafbarkeit - als zivilen Ungehorsam.

Ich wage die Prognose: Es wird einmal eine Zeit kommen, in der die Menschen verständnislos auf die Kriminalisierung der Klimaaktivisten zurückblicken. Vor allem dann, wenn sich die Politik als unwillig oder unfähig erweist, die Gesetze, zu denen sie sich selbst verpflichtet hat, einzuhalten. Schlagen dereinst die verheerenden Folgen des Klimawandels voll durch, wird man kaum die Aktivisten an den Pranger stellen, sondern zumindest im Nachhinein die kläglich versagenden Politiker verurteilen. Heute mag das Letzteren egal sein, doch in den Geschichtsbüchern der Zukunft genießen sie bestimmt einen genauso schlechten Ruf wie die Rassisten im Alabama der fünfziger Jahre. "Völlig bekloppt" (O-Ton Olaf Scholz über die "letzte Generation"), dieses wenig schmeichelhafte Etikett haftet dann hauptsächlich an ihnen.

Im Gegensatz zu den Aktivisten haben Politiker allerdings einen unschlagbaren Vorteil: Sie können Gesetze beschließen und dadurch ihr Verhalten legalisieren. Ein Beispiel: Der Verkehrsbereich überschreitet die im aktuellen Klimaschutzgesetz gezogenen Sektorgrenzen der zulässigen Treibhausgasemissionen. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) müsste folglich konkrete Maßnahmen einleiten, etwa ein generelles Tempolimit auf den Autobahnen, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Das ist natürlich bei der Klientel der FDP höchst unpopulär. Und was macht die Bundesregierung? Anstatt Maßnahmen zur Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Sektorziele vorzulegen, ändert sie kurzerhand das Gesetz. Das ist in meinen Augen legaler Gesetzesbruch, aber nach Auffassung der Justiz sind natürlich allein die Klimaaktivisten die Rechtsbrecher. Zwar dürfen Politiker Gesetze erlassen oder ändern, im Kern wird die Sache dadurch jedoch nicht besser. Unterschied: Die einen nennt man Gesetzgeber, die anderen eine kriminelle Vereinigung.

Wie werden das die Menschen im 22. Jahrhundert beurteilen, wenn klimabedingte Dürren und der unausweichliche Anstieg des Meeresspiegels weltweit zu Hungersnöten und zu bislang ungekannten Migrationsströmen führen? Wenn es zahlreiche Hitzetote gibt und Teile der Erde für Menschen unbewohnbar sind? Vermutlich gelten dann Klimaaktivisten als Vorbilder - so wie heutzutage Rosa Parks. Und was wird man über Porsche-Fahrer Christian Lindner denken? Nun, diese Frage dürften Sie sich jetzt selbst beantworten können.