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29. Mai 2023, von Michael Schöfer
Sich selbst zu betrügen, hat noch nie geholfen


Vorsicht: Es gibt nicht nur russische Propaganda, auch im Westen ist allzu oft bloß der Wunsch der Vater des Gedankens. Wenn die geneigten Leserinnen und Leser ein bisschen nachdenken und nicht jede Meldung gleich wieder vergessen, bekommen sie zumindest berechtigte Zweifel, ob uns ein realistisches Bild vermittelt wird.

In der vergangenen Nacht gab es wieder schwere Luftangriffe auf die Ukraine [1], man könnte den Russen zu Hause vor dem Bildschirm ständig laut "ihr Verbrecher" zurufen, aber diese verständliche Empörung ist so leider wenig hilfreich. Moment mal: schwere Luftangriffe? Noch immer? Stand nicht schon vor Monaten in der hiesigen Presse, der russischen Armee ginge bald die Munition aus?

In der Tat: "Russland könnte bis Ende des Jahres ein Großteil seiner Munition ausgehen", glaubte ein Militärexperte im Herbst vorigen Jahres zu wissen. [2] "Die russische Munition wird langsam knapp", las man auch beim ZDF. Das Ganze beruhte auf der Einschätzung von US-Geheimdiensten. [3] Dieser Ansicht schloss sich der britische Geheimdienst an: "Wir wissen, und das wissen auch russische Kommandeure im Krieg, dass ihnen die Ausrüstung und Munition ausgeht." [4] Angesichts der anhaltenden Angriffe waren diese optimistisch klingenden Prognosen offenkundig falsch. Natürlich fragt man sich unwillkürlich: Woher haben die Russen so viel Material? Aber anscheinend wissen das noch nicht einmal die westlichen Geheimdienste. Oder sie sagen uns nicht die Wahrheit.

Es vergeht ja kaum eine Woche, in der sich die Russen nicht mit angeblichen Wunderwaffen aufplustern, doch das dürften mittlerweile nicht einmal die eigenen Soldaten glauben. Putins "Wunderwaffen" existieren größtenteils in der Propaganda, Presseberichten zufolge ist bislang auf dem Schlachtfeld wenig von ihnen zu sehen. Im Grunde wirkt so etwas demotivierend. Außerdem erinnert das an einen gewissen Schicklgruber, besser als GröFaZ bekannt (Größter Feldherr aller Zeiten), dessen Propagandisten bis zuletzt über Wunderwaffen schwadronierten, die bald zum Einsatz kämen und den Endsieg bringen würden. Fanatische Anhänger haben das wohl allzu bereitwillig geglaubt, Zweifler hingegen richteten die Nazis noch kurz vor Kriegsende gnadenlos hin.

Bedauerlicherweise wird diese unselige Wunderwaffen-Tradition nicht nur von Putin gepflegt, selbst in der westlichen Presse taucht sie nach wie vor auf. "Diese Wunderwaffe könnte den Ukraine-Krieg entscheiden", titelte "Die Welt" im Juli 2022 martialisch. [5] Gemeint waren Himars-Raketenwerfer aus amerikanischer Produktion. Der "Stern" blies ins gleiche Horn. [6] "Wunderwaffe gegen Putin: Was die Taurus-Raketen der Bundeswehr ausrichten können", schrieb die Frankfurter Rundschau unlängst. Auch die britischen Storm Shadow-Marschflugkörper hätten sich als "wahre Wunderwaffe" entpuppt. [7] Wunderwaffe? Was soll das? Manche Journalisten müssen uns wirklich für ziemlich doof halten, weil sie offenbar glauben, mit derart plumper Kriegsrhetorik überzeugen zu können? Auf übertriebene Zweckpropaganda sollte die westliche Presse verzichten, denn wenn sie sich als falsch herausstellt, ist das absolut kontraproduktiv.

Ein anderes Beispiel: Praktisch von Kriegsbeginn an gab es wilde Spekulationen über den Gesundheitszustand des russischen Präsidenten. Wladimir Putin sei schwer erkrankt und hätte angeblich nicht mehr lange zu leben, wobei die Krebsarten kurioserweise variierten: Bauchspeicheldrüsenkrebs, Schilddrüsenkrebs, Hirntumor, Darmkrebs, Leukämie. Parkinson, Demenz oder Multiple Sklerose kamen als Alternativerkrankungen ebenfalls in Betracht. Ständig wurden und werden Informationen von "Experten" oder "Insidern" wiedergegeben. Belege? Fehlanzeige! Die einzig zuverlässige Information ist: Putin lebt noch immer. Doch auch das wird mittlerweile infrage gestellt, denn um das Ganze propagandistisch auf die Spitze zu treiben, bezweifelt sogar der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj öffentlich, dass Putin überhaupt noch am Leben ist, möglicherweise werde Russland mithilfe eines Doppelgängers aus dem Hintergrund regiert. [8]

Mein Gott, haltet euch doch bitte an die Fakten, die sind schlimm genug. Selbst wenn die Wahrheit ernüchternd sein sollte, ist sie dumm-dreister Zweckpropaganda stets vorzuziehen. Wir brauchen ein realistisches Bild von dem, was auf der Welt passiert. Sich selbst zu betrügen, hat am Ende noch nie geholfen, denn wenn die Illusionen wie Seifenblasen zerplatzen, ist die Realität umso schwerer zu verkraften. Was die Ukraine wirklich braucht, ist militärische Unterstützung in Form von Waffenlieferungen und Munitionsnachschub. Und diesbezüglich wäre es besser gewesen, der Westen, namentlich die Europäer, hätten rechtzeitig und umfassender reagiert. Wir haben viel zu lange gezögert, so ist etwa die Anfang 2023 von der EU versprochene Munitionslieferung (eine Million Artilleriegeschosse bis März 2024) noch gar nicht richtig in Gang gekommen. Wohlgemerkt, mehr als ein Jahr nach Kriegsbeginn. Die irreale Wunderwaffen-Rhetorik in der Presse lenkt von dieser skandalösen Tatsache bloß ab.

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[1] tagesschau.de vom 29.05.2023
[2] Focus-online vom 11.09.2022
[3] ZDF vom 18.10.2022
[4] BR vom 11.10.2022
[5] Die Welt-online vom 13.07.2022
[6] Stern-online vom 25.07.2022
[7] FR-online vom 24.05.2023
[8] ntv vom 20.01.2023